Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
über die Schwelle treten und um sich blicken, als suche er jemanden. Er entdeckte den Kommissar und kam lächelnd mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.
»Das nennen Sie also ›etwas anderes vorhaben‹!« sagte er. »Ganz allein im Restaurant zu Mittag essen … Aber ich verstehe schon. Sie dachten, wir wollten lieber unter uns bleiben.«
Ganz offensichtlich gehörte er zu der Kategorie Menschen, die sich unaufgefordert anderen anschließen und es einfach nicht wahrhaben wollen, daß man sie nicht eben mit Begeisterung empfängt.
Maigret konnte sich das boshafte Vergnügen nicht verkneifen, ausgesprochen kühl zu bleiben, was van Damme nicht davon abhielt, sich an seinem Tisch niederzulassen.
»Sind Sie fertig? Darf ich Ihnen dann ein Gläschen zum Kaffee anbieten? Herr Ober! … Nun, was trinken Sie, Herr Kommissar? Wie wär’s mit einem alten Armagnac?«
Er ließ sich die Getränkekarte bringen und den Besitzer herbeirufen, entschied sich endlich für einen achtzehnhundertsiebenundsechziger Armagnac und bestand dann noch auf Probiergläsern.
»Übrigens … fahren Sie nun zurück nach Paris? Ich will mich nämlich heute nachmittag auf den Weg dorthin machen, und da Bahnreisen mir zuwider sind, habe ich vor, einen Wagen zu mieten. Wenn Sie wollen, nehme ich Sie mit … Was halten Sie von meinen Freunden?«
Kritisch beschnüffelte er den Armagnac und zog ein Zigarrenetui aus der Tasche.
»Bitte, bedienen Sie sich! Sie sind sehr gut. Ein einziges Geschäft in Bremen führt diese Sorte, die direkt aus Havanna importiert wird!«
Maigrets Gesichtsausdruck war nie unbeteiligter gewesen, nie sein Blick ausdrucksloser.
»Komisch ist das, sich so nach Jahren wiederzusehen«, fing van Damme, scheinbar außerstande, ihr Schweigen zu ertragen, wieder an. »Am Anfang, mit zwanzig, da ist man sozusagen auf derselben Stufe, und wenn man sich dann wieder trifft, kann man nur über die Kluft staunen, die sich zwischen den einzelnen gebildet hat … Ich will nichts Schlechtes über sie sagen, aber vorhin, bei Belloir, habe ich mich einfach nicht wohlgefühlt …
Diese beklemmende Kleinbürgerlichkeit! Und Belloir selbst, so geschniegelt … Aber er hat es doch zu etwas gebracht. Er hat die Tochter von Morvandeau, dem Sprungfederrahmen-Fabrikanten geheiratet; all seine Schwäger sind in der Industrie. Er selbst hat einen feinen Posten bei der Bank, wird wohl eines Tages zum Direktor avancieren …«
»Und der Kleine mit dem Bart?« fragte Maigret.
»Der … Er wird es vielleicht mal schaffen. Vorerst, glaube ich, lebt er von der Hand in den Mund. Er ist Bildhauer in Paris. Angeblich hat er Talent, aber Sie wissen ja, wie das ist … Sie haben ihn ja gesehen in seinem Aufzug aus dem letzten Jahrhundert … Nichts Modernes, nicht die Spur von Geschäftssinn!«
»Und Jef Lombard?«
»Einen prächtigeren Burschen finden Sie weit und breit nicht! Als junger Mann war er das, was man so einen Witzbold nennt; stundenlang konnte man ihm zuhören.
Er wollte Maler werden, hat Zeichnungen für die Zeitungen angefertigt, um sich über Wasser zu halten, und sich dann in Lüttich aufs Druckgewerbe verlegt. Er ist verheiratet. Ich glaube, das dritte Kind ist unterwegs …
Ich kann Ihnen sagen, ich hatte das Gefühl, in dieser Gesellschaft zu ersticken! Kleinbürgerliche Existenzen, belanglose Probleme … Es ist nicht ihre Schuld, aber ich sehne mich ordentlich danach, mich wieder ins Geschäftsleben zu stürzen!«
Er leerte sein Glas, ließ seinen Blick über den Speisesaal hinwandern, in dem sie fast die einzigen Gäste waren. An einem abseits gelegenen Tisch saß ein Kellner und las die Zeitung.
»Abgemacht also, wir fahren zusammen zurück nach Paris?«
»Nehmen Sie denn den kleinen Bärtigen nicht mit, der Sie herbegleitet hat?«
»Janin? Nein, der sitzt längst im Zug.«
»Verheiratet?«
»Nicht direkt; er hat immer irgend eine Freundin, mit der er zusammenlebt. Mal hält’s eine Woche an und mal ein Jahr, bevor er sie wechselt. Und jedesmal stellt er einem seine Gefährtin als Madame Janin vor … Ober, nochmal dasselbe!«
Von Zeit zu Zeit war Maigret gezwungen, den Blick zu verschleiern, der zuviel Konzentration zu verraten drohte. Der Wirt erschien persönlich, um ihm zu sagen, er werde am Telefon verlangt, denn er hatte die Adresse des Café de Paris beim Polizeipräsidium hinterlassen.
Es war eine Mitteilung aus Brüssel, die der Kriminalpolizei telegrafisch durchgegeben worden war. Die dreißig
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