Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
mehrmals kurz von der Straße her zum Zeichen, daß der Wagen fahrbereit war.
»Vorwärts!« sagte der Kommissar.
Und wortlos nahmen sie ihre Plätze wieder ein. Van Damme, die Zigarre immer noch zwischen den Zähnen, vermied es, Maigret anzusehen.
So fuhren sie zehn Kilometer, zwanzig Kilometer, rollten mit verringertem Tempo durch eine Ortschaft, deren Straßen belebt und hell erleuchtet waren, und weiter auf der Landstraße.
»Verhaften können Sie mich trotzdem nicht!«
Der Kommissar fuhr zusammen, so unerwartet kam die langsam, in eigensinnigem Ton ausgesprochene Feststellung; und dabei entsprach sie doch genau dem Problem, das auch ihn beschäftigte!
Sie kamen nach Meaux. Auf das flache Land folgte der äußere Ring der Vororte. Es begann zu nieseln, und im Licht der Straßenlaternen nahm jeder Regentropfen die Form eines Sterns an. Den Mund dicht am Sprachrohr gab der Kommissar die Anweisung:
»Zum Polizeipräsidium, Quai des Orfèvres …«
Er stopfte sich eine Pfeife, ohne sie rauchen zu können, weil seine Streichhölzer naß geworden waren. Unmöglich, das abgewandte Gesicht des neben ihm Sitzenden zu erkennen; es war nur noch ein vom Zwielicht scharf umrissenes, verlorenes Profil, und doch spürte man die zornige Erregung des Mannes.
Etwas Unnachgiebiges lag in der Luft zwischen ihnen, sie war wie geladen mit einem Gemisch von Feindseligkeit und Wachsamkeit.
Selbst Maigret schob mit einem Ausdruck von Aggressivität den Unterkiefer leicht vor.
Dies alles kam dann in Form eines albernen Zwischenfalls zum Ausdruck, als der Wagen vor dem Präsidium hielt. Der Kommissar stieg als erster aus.
»Los, kommen Sie!« sagte er.
Der Chauffeur wartete darauf, bezahlt zu werden, und van Damme tat, als ginge es ihn nichts an. Sekundenlang herrschte eine allgemeine Unentschlossenheit, bis Maigret, nicht ohne sich der Komik der Situation bewußt zu werden, sagte:
»Worauf warten Sie? Sie haben das Auto schließlich gemietet!«
»Verzeihung, aber wenn ich die Reise als Häftling gemacht habe, ist es Ihre Sache, zu zahlen.«
Zeigte das nicht, wie sehr sich ihr Verhältnis zueinander seit Reims verändert hatte? Welch eine Verwandlung vor allem mit dem Belgier vorgegangen war?
Maigret zahlte und wies seinem Begleiter wortlos den Weg. In seinem Büro angelangt schloß er die Tür hinter ihnen, worauf seine erste Sorge dem Ofen galt.
Dann ging er an einen Wandschrank, entnahm ihm einige Kleidungsstücke und wechselte – ohne von dem Besucher Notiz zu nehmen – Hose, Strümpfe und Schuhe, hängte die nassen Sachen zum Trocknen ans Feuer.
Van Damme hatte unaufgefordert Platz genommen. Bei der hellen Beleuchtung fiel die mit ihm vorgegangene Veränderung noch stärker auf.
All die geheuchelte Gutmütigkeit und Spontaneität, das eher gezwungene Lächeln waren in Luzancy zurückgeblieben. Hier saß er mit angespannten Zügen, einen hinterhältigen Ausdruck in den Augen, und wartete.
Maigret fuhr fort, in seinem Büro herumzuwirtschaften, so als habe er alles Interesse an dem Besucher verloren. Er ordnete die Akten auf seinem Schreibtisch, rief seinen Chef an und bat um eine Auskunft, die nichts mit dem Fall zu tun hatte.
Schließlich baute er sich breitbeinig vor van Damme auf und fragte:
»Wo, wann und unter welchen Umständen haben Sie den Selbstmörder von Bremen, der sich als Louis Jeunet ausgab, kennengelernt?«
Der andere war nur ganz leicht zusammengezuckt; er hob den Kopf mit einer Entschlossenheit ausdrückenden Bewegung, um zu erwidern:
»In welcher Eigenschaft bin ich hier?«
»Soll das heißen, Sie weigern sich, meine Frage zu beantworten?«
Van Damme lachte. Es war eine ganz neue Art von Lachen, ironisch und boshaft.
»Ich kenne die Gesetze so gut wie Sie, Kommissar. Entweder Sie erheben formell Anklage gegen mich, dann warte ich, bis ich den Haftbefehl vor Augen habe; oder aber Sie tun es nicht, dann verpflichtet mich auch nichts, Ihnen zu antworten.
Im ersten Fall sieht das Gesetz vor, daß ich den Beistand eines Anwalts abwarten kann, bevor ich eine Aussage mache.«
Maigret wurde nicht böse, schien nicht einmal verstimmt über diese Haltung. Im Gegenteil! Voller Interesse, ja vielleicht sogar mit einer gewissen Befriedigung betrachtete er sein Gegenüber.
Der Vorfall bei Luzancy hatte Joseph van Damme gezwungen, sein gekünsteltes Wesen abzulegen; nicht nur das, welches er Maigret gegenüber aufgesetzt hatte, sondern auch das, welches er vor der Welt und sogar vor sich selbst zur
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