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Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien

Titel: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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schönen Künste, und andererseits die Studenten … Wir tranken miteinander, denn es wurde immer viel getrunken! Man trank, um die Ekstase noch zu steigern, beschränkte die Beleuchtung auf ein Minimum, um eine geheimnisvolle Stimmung zu schaffen …
    Hier haben wir gelegen, sehen Sie! Die einen auf der Couch, die anderen am Boden, und haben Pfeife auf Pfeife geraucht, bis die Luft undurchdringlich wurde. Dann sangen wir im Chor … Fast immer wurde einem übel, der dann in den Hof runter mußte, um sich zu übergeben …
    Das alles geschah regelmäßig so gegen zwei, drei Uhr morgens. Die Gemüter erhitzten sich, und mit Hilfe des Weins – billiger Sorten, die uns auf den Magen schlugen! – schwangen wir uns aufwärts ins Reich der Metaphysik …
    Ich sehe den armen Klein immer noch vor mir. Er war ein kränklicher Junge und der Erregbarste von uns allen. Seine Mutter war arm, er hatte so gut wie kein Geld zum Leben, verzichtete aufs Essen, um trinken zu können …
    Denn in angetrunkenem Zustand hielt sich jeder von uns für ein wahres Genie! …
    Die Studenten waren etwas vernünftiger. Sie stammten ja auch mit Ausnahme von Lecocq d’Arneville aus besseren Verhältnissen. Belloir brachte schon mal eine Flasche alten Burgunder oder Likör mit, den er seinen Eltern geklaut hatte, und van Damme kam mit Aufschnitt an …
    Wir waren überzeugt davon, daß der Rest der Welt mit einer Mischung aus Furcht und Bewunderung zu uns aufsah, und hatten uns einen geheimnisvollen, hochtrabenden Namen ausgesucht: Die apokalyptischen Kumpane.
    Bestimmt hatte keiner die ganze Apokalypse gelesen, nur Klein, wenn er betrunken war, sagte einige Stellen auswendig auf …
    Es war beschlossen worden, gemeinsam für die Miete des Ateliers aufzukommen. Klein als einziger sollte das Recht haben, hier zu wohnen.
    Ein paar Mädchen hatten sich überreden lassen, uns umsonst Modell zu stehen – Modellstehen und alles, was so dazugehört, versteht sich! Und wir verwandelten sie in Grisetten im Sinne von Murgers Bohème – mit allem Drum und Dran!
    Die da am Boden war eine von ihnen; saudumm, was uns aber nicht davon abhielt, sie als Madonna zu malen.
    Trinken, das war uns das Wichtigste! Es galt, die Stimmung um jeden Preis hochzuschrauben … Und ich erinnere mich noch, wie Klein einmal das gleiche Resultat zu erzielen versuchte, indem er eine Flasche Schwefeläther über der Couch entleerte …
    Und wie wir uns alle da hineinsteigerten, in Erwartung des nächsten Rausches, neuer Visionen!
    Verdammt noch mal!«
    Jef Lombard preßte seine Stirn an die beschlagene Scheibe, dann kam er zurück, fuhr mit bewegter Stimme fort:
    »Und so waren wir denn auch durch dies dauernde, künstliche Überreizen unserer Sinne die reinsten Nervenbündel; besonders diejenigen, bei denen es mit der Ernährung am schlechtesten bestellt war. Sie können sich das vorstellen, nicht? … Der arme Klein zum Beispiel, ein Junge, der nie ordentlich aß und sich dann wieder mit Hilfe von Alkohol zu stärken suchte …
    Es ist klar, daß wir die Welt neu entdeckten, daß wir für jedes große Problem eine Lösung hatten, den Bürger, die Gesellschaft und alle bestehenden Erkenntnisse verhöhnten …
    Sobald wir einige Gläser getrunken hatten und der Qualm unserer Pfeifen in dichten Schwaden zwischen uns hing, schwirrten auch schon die verschrobensten Ideen durcheinander. Nietzsche, Karl Marx, Moses, Konfuzius und Jesus Christus, alles kam in einen Topf. Nur ein Beispiel: Ich weiß nicht mehr, wer von uns vermeinte herausgefunden zu haben, daß der Schmerz überhaupt nicht existiert, sondern lediglich eine Illusion unseres Hirns ist … Ich war so begeistert von diesem Gedanken, daß ich mir eines Nachts inmitten eines Kreises atemloser Zuschauer eine Messerspitze in den Arm bohrte und mich zwang, dabei zu lächeln …
    Und das war nicht der einzige Fall! … Wir stellten eben eine Elite dar, waren eine Handvoll Auserwählter, vom Zufall vereint. Wir schwebten über der Welt mit ihren Konventionen, Gesetzen, Vorurteilen …
    Eine Handvoll Götter waren wir! Götter, denen wohl mal vor Hunger der Magen knurrte, die jedoch hocherhobenen Hauptes und voller Verachtung für ihre Umwelt durch die Straßen schritten …
    Und die Zukunft hatten wir fein geregelt: Aus Lecocq d’Arneville würde ein Tolstoi werden, van Damme, der die prosaische Handelshochschule besuchte, würde einmal die gesamte Volkswirtschaft auf den Kopf stellen, die hergebrachte Weltordnung aus den

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