Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
Angeln heben.
Für jeden war ein Platz vorgesehen – als Dichter, Maler oder als künftiger Staatschef …
All das mit Hilfe des Alkohols! Und es kam noch besser! Zum Schluß war das schwärmerische Hochgefühl zu einer solchen Gewohnheit geworden, daß wir uns bloß ein paar Minuten hier im verklärten Licht der Laterne aufzuhalten brauchten, mit dem Skelett im Halbdunkel, dem Totenschädel, der uns als Trinkbecher diente, und schon stellte sich der gewünschte Rauschzustand ganz von selbst ein.
Sogar die Bescheidensten unter uns sahen für die Zukunft schon eine marmorne Gedenktafel an der Hausmauer: Hier pflegten die berühmten apokalyptischen Kumpane zusammenzutreffen.
Und einer versuchte den anderen durch das neueste Buch, die ausgefallenste Idee zu überbieten.
Nur ein Zufall hat uns davor bewahrt, Anarchisten zu werden, denn die Frage stand zur Debatte, wurde ernsthaft erwogen. Damals war gerade in Sevilla ein Attentat verübt worden. Der Zeitungsartikel wurde laut vorgelesen.
Ich weiß nicht mehr, wer damals ausrief:
›Das echte Genie ist ein Zerstörer!‹
Und daraufhin haben wir, eine Schar dummer Jungen, diesen Gedanken stundenlang diskutiert, uns mit der Möglichkeit befaßt, Bomben herzustellen, uns gefragt, was wohl am besten in die Luft zu jagen sei.
Dann ist der arme Klein, der schon bei seinem sechsten oder siebten Glas war, umgekippt, aber anders als sonst; es war mehr so etwas wie ein Nervenschock. Er hat sich am Boden gewälzt, und wir haben an nichts anderes mehr denken können, als was mit uns geschehen würde, falls ihm ein Unglück zustieße.
Dies Mädchen war dabei. Henriette hieß sie, und sie hat geschluchzt …
Ach, das waren tolle Nächte! Es war ganz einfach Ehrensache für uns, hierzubleiben, bis der Laternenanzünder draußen die Lampen gelöscht hatte. Dann erst stahlen wir uns, im Morgengrauen fröstelnd, nach draußen.
Die Söhne wohlhabender Eltern stiegen durchs Fenster in ihr Haus, schliefen sich aus und behoben die Schäden der Nacht so gut es ging mit reichlichem Essen.
Wir anderen dagegen, Klein, Lecocq d’Arneville und ich, lungerten auf den Straßen herum, verschlangen ein Brötchen und starrten neiderfüllt auf die Auslagen der Schaufenster.
Ich besaß in jenem Jahr keinen Mantel, weil ich unbedingt einen großen Hut, der hundertzwanzig Francs kostete, hatte haben wollen.
Ich redete mir ein, die Kälte sei, so wie alles andere, eine Illusion, und erklärte – durch unsere Diskussionen ermutigt – meinem Vater, einem biederen Arbeiter in einer Waffenfabrik, der inzwischen gestorben ist, Elternliebe stelle die allerniedrigste Form von Egoismus dar und eines Kindes erste Pflicht bestehe darin, mit den Seinen zu brechen.
Er war Witwer, ging früh um sechs zur Arbeit, gerade wenn ich nach Hause kam … Na ja, so ist er denn immer früher weggegangen, um mir nicht zu begegnen, weil meine Reden ihm Furcht einflößten. Er ließ mir Zettel auf dem Tisch zurück: Im Schrank ist noch kaltes Fleisch. Dein Vater …«
Sekundenlang versagte Jefs Stimme. Er sah erst Belloir an, der auf dem Rand eines sitzlosen Stuhls hockte und vor sich hin starrte, und dann den eine Zigarre zerpflückenden van Damme.
»Wir waren sieben«, kam es tonlos von Lombard, »sieben Supermänner, sieben Genies, sieben dumme Jungen …
Janin ist in Paris, er ist bei der Bildhauerei geblieben; das heißt, er fertigt Schaufensterpuppen für eine große Fabrik an, und wenn ihn mal das Fieber packt, modelliert er die Büste seiner derzeitigen Geliebten …
Belloir ist bei der Bank gelandet, van Damme im Geschäftsleben. Ich bin Fotograveur geworden …«
Ein furchtgeladenes Schweigen hing im Raum. Jef schluckte, und die tiefen Schatten um seine Augen schienen sich noch zu vertiefen, als er fortfuhr:
»Klein hat sich an der Kirchentür erhängt … Lecocq d’Arneville hat sich in Bremen eine Kugel durch den Kopf gejagt …«
Ein neuerliches Schweigen folgte den Worten. Diesmal war es Maurice Belloir, der, unfähig länger stillzusitzen, aufstand und nach einem Moment der Unschlüssigkeit vor das Atelierfenster trat. Ein merkwürdiges Geräusch drang aus seiner Kehle.
»Und der letzte?« fragte Maigret, »Mortier, wenn ich nicht irre, der Sohn des Kaldaunenhändlers?«
Lombard fixierte den Kommissar mit einem derart fiebrig flackernden Blick, daß dieser einen neuen Zusammenbruch fürchtete. Van Damme warf einen Stuhl um.
»Das war im Dezember, stimmt’s?«
Und während er
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