Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
stand, bückte sich abermals nach einem Papierfetzen, allem Anschein nach ein Stück von einem Brief, auf dem nur eine einzige Zeile stand:
Lieber alter Junge …
Er hörte jedoch nicht auf, van Damme zu beobachten, der sich anstrengte, den Sinn von Maigrets Worten zu verstehen, und plötzlich, die Gefahr begreifend, erschüttert und mit verstörtem Gesicht ausrief:
»Ich war es nicht! Ich schwöre Ihnen, ich habe diesen Anzug nie angehabt!«
Maigret beförderte den Revolver seines Gegenspielers mit einem Fußtritt auf die andere Seite des Raumes.
Warum aber mußte er gerade in diesem Augenblick wieder an all die Kinder denken? Den Jungen Belloirs, die drei Kleinen in der Rue Hors-Château, wo die Jüngste noch nicht einmal die Augen geöffnet hatte, und den Sohn des falschen Louis Jeunet …
Eine Kohlezeichnung am Boden, die nicht signiert war, zeigte die schwungvoll gewölbte Hüfte des schönen jungen Modells.
Auf der Treppe vernahm man zögernde Schritte. Eine Hand tastete über die Tür, nach der Schnur, die als Klinke diente.
9
Die apokalyptischen Kumpane
In den nun folgenden Auftritten war jedes Wort, jedes Schweigen, jeder Blick und selbst jedes unwillkürliche Muskelspiel der Beteiligten von besonderer Bedeutung; alles verbarg einen tieferen Sinn, und jeder der Anwesenden schien von einer fahlen Aura umgeben: den gestaltlosen Umrissen der Angst.
Die Tür ging auf, und Maurice Belloir trat herein. Sein erster Blick galt dem in einer Ecke eng an die Wand gedrückten van Damme, der zweite dem Revolver am Boden.
Und das genügte, um die Situation zu erfassen, besonders wenn man dann noch den friedlich an seiner Pfeife kauenden Maigret ansah, der fortfuhr, in den alten Skizzenblättern herumzustöbern.
»Lombard kommt gleich!« bemerkte Belloir, ohne daß es ersichtlich war, ob die Feststellung dem Kommissar oder dem Freund galt. »Ich habe ein Taxi genommen …«
Und diese Worte allein schon verrieten Maigret, daß der stellvertretende Bankdirektor sich geschlagen gab. Es war eine kaum spürbare Wahrnehmung, die ihre Bestätigung in den weniger gespannten Zügen Belloirs, in einem Unterton von Mattigkeit und Beschämung in seiner Stimme fand.
Die drei blickten einander an, und es war van Damme, der als Erster fragte:
»Was ist denn mit …?«
»Er benimmt sich wie ein Irrer. Ich habe versucht, ihn zu beruhigen, aber er ist mir entwischt … Laut vor sich hinbrabbelnd und gestikulierend ist er davon …«
»Bewaffnet?« erkundigte sich Maigret.
»Bewaffnet.«
Und mit dem schmerzhaft verzogenen Gesicht eines zutiefst erschütterten Menschen, der vergeblich um Beherrschung ringt, spitzte Maurice Belloir die Ohren.
»Sie waren also zusammen in der Rue Hors-Château, um das Ergebnis meiner Unterhaltung mit ihm abzuwarten?«
Maigret wies mit dem Finger auf van Damme, und Belloir machte eine zustimmende Kopfbewegung.
»Und Sie waren sich alle drei einig, mir anzubieten …«
Es war nicht nötig, die Sätze zu beenden. Ein jeder verstand schon beim ersten Wort; sie verstanden einander, selbst wenn sie schwiegen. Es war, als hätten sie einander denken hören können.
Plötzlich kamen eilige Schritte die Treppe herauf gepoltert; man hörte, wie jemand stolperte und fiel, dann ein wütendes Schnauben. Ein Fußtritt ließ die Tür aufspringen. Einen Moment lang verharrte Jef Lombard reglos auf der Schwelle, fixierte die drei Männer mit Augen, deren stierer Blick etwas Erschreckendes hatte.
Er zitterte wie im Fieber oder so, als sei er einer Art Wahnsinn verfallen.
Sicherlich drehte sich ihm alles vor den Augen; die vor ihm zurückweichende Gestalt Belloirs, das gedunsene Gesicht van Dammes und schließlich der breitschultrige Maigret, der ohne eine Bewegung zu machen mit angehaltenem Atem dastand.
Und obendrein all das fürchterliche Gerümpel, die über den Boden verstreuten Zeichnungen, das nackte Mädchen, von dem nur Brüste und Kinnpartie sichtbar waren, die Laterne und die höckerige Couch …
Die ganze Szene dauerte nur Sekundenbruchteile. Jefs ausgestreckten Arm verlängerte ein Trommelrevolver.
Maigret beobachtete ihn ruhig, und doch entrang sich ein Seufzer der Erleichterung seiner Brust, als Jef Lombard die Waffe plötzlich von sich warf, beide Hände vors Gesicht schlug und zwischen heiseren Schluchzern ächzte:
»Ich kann nicht! … Ich kann nicht! … Herrgott nochmal, hört doch, ich kann das nicht!«
Dann stützte er sich mit beiden Armen gegen die Wand, und man sah nur
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