Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien
noch, wie seine Schultern zuckten, vernahm sein jämmerliches Schniefen.
Der Kommissar schloß die Tür, denn die Geräusche von Hobel und Säge drangen, vermengt mit entferntem Kindergeschrei, bis zu ihnen herauf.
Jef Lombard wischte sich mit dem Taschentuch übers Gesicht, warf das Haar zurück und blickte mit dem leeren Ausdruck eines Menschen um sich, der einen Nervenzusammenbruch hinter sich hat.
Noch hatte er sich nicht ganz beruhigt, noch waren seine Finger verkrampft, bebten die Nasenflügel, und bevor er sprechen konnte, mußte er sich auf die Lippen beißen, um ein neuerliches Schluchzen zu ersticken.
»Das also hat man erreicht!« sagte er mit einer vor Ironie tonlosen, schneidenden Stimme und versuchte zu lachen. Es klang verzweifelt.
»Neun Jahre! … Fast zehn! … Ich bin hier geblieben, ganz allein, ohne Geld, ohne Beruf …«
Er sprach zu sich selbst, bestimmt ohne zu merken, daß sein Blick dabei unentwegt, unerbittlich an der Aktstudie des Mädchens mit der grellfarbenen Haut hing.
»Zehn Jahre lang hat man sich geplackt, tagein, tagaus – hat nichts als Verdruß und Schwierigkeiten aller erdenklichen Art auszustehen gehabt! Trotz allem hab ich geheiratet, hab Kinder gewollt, hab geschuftet wie ein Ochse, um ihnen ein anständiges Leben zu ermöglichen … Ein Haus, die Werkstatt und der ganze Rest! Ihr habt es gesehen … Bloß, was keiner sieht, ist die Mühe, die es gekostet hat, all das aufzubauen, der Überdruß … Und anfangs all die Nächte, wo ich vor Sorgen wegen der Wechsel kein Auge zubekam …«
Er schluckte, fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Sein Adamsapfel glitt auf und ab.
»Und jetzt dies! … Ich hab gerade eine Tochter bekommen und bin nicht mal sicher, ob ich sie mir überhaupt schon angeguckt habe! … Meine Frau liegt zu Bett und hat keine Ahnung, was los ist, schaut mich ganz entsetzt an, weil ich wie ein Fremder geworden bin … Die Arbeiter kommen und stellen mir Fragen, und ich weiß kaum, was ich ihnen antworte …
Schluß! … Auf einmal, in ein paar Tagen! Alles ist unterhöhlt, zerstört, kaputt – in die Brüche! … Alles, die Arbeit von zehn Jahren!
Und das, weil …«
Er ballte die Hände zu Fäusten, starrte die am Boden liegende Waffe und dann Maigret an. Er war total erledigt.
»Laßt uns doch ein Ende machen!« seufzte er mit einer müden Geste. »Wer wird denn nun endlich reden? Es ist so unsinnig!«
Es war, als seien die Worte an den Totenkopf gerichtet, an den Haufen Skizzen, an all die wirren Malereien, die die Wände bedeckten.
»So unsinnig! …« wiederholte er.
Fast schien es, als werde er neuerdings in Tränen ausbrechen. Doch, nein! Seine Nerven gaben nichts mehr her. Die Krise war überstanden. Er ließ sich auf den Rand der Couch sinken und blieb so – die Ellbogen auf seine spitzen Knie gestützt, das Kinn in den Händen – wartend sitzen.
Die einzige Bewegung, die er noch machte, war, mit dem Fingernagel einen Schmutzfleck vom Aufschlag seiner Hose zu schaben.
»Stör ich auch nicht?«
Es klang fröhlich. Der Schreiner trat, ganz mit Sägemehl überpudert, in den Raum. Sein erster Blick galt den mit Zeichnungen bedeckten Wänden. Er lachte.
»Sie sind also noch einmal gekommen, sich all das anzusehen!«
Keiner rührte sich. Nur Belloir bemühte sich, natürlich zu erscheinen.
»Erinnern Sie sich, daß Sie mir die zwanzig Francs vom letzten Monat schuldig geblieben sind? … Aber nein, das soll keine Mahnung sein! Ich muß bloß lachen bei dem Gedanken, daß Sie damals, als Sie weggingen und mir all den alten Kram hierließen, behaupteten:
›Womöglich wird ein einziger dieser Entwürfe eines Tages soviel wie die ganze Bude wert sein.‹
Ich hab’s nicht geglaubt, hab aber doch gezögert, die Wände übertünchen zu lassen. Dann hab ich mal einen Bilderrahmer, der auch mit Gemälden handelt, kommen lassen. Der hat zwei oder drei Zeichnungen mitgenommen. Hundert Sous hat er mir dafür gegeben … Malen Sie immer noch?«
Jetzt erst schien er zu merken, daß etwas nicht stimmte. Joseph van Damme starrte beharrlich zu Boden. Belloir ließ vor Ungeduld die Finger knacken.
»Haben Sie sich nicht in der Rue Hors-Château niedergelassen?« begann der Schreiner abermals, an Jef gewandt. »Ein Neffe von mir hat bei Ihnen gearbeitet. Ein großer Blonder …«
»Kann sein«, seufzte Lombard mit abgewandtem Gesicht.
»An Sie kann ich mich nicht mehr erinnern … Gehörten Sie auch zu der Bande?«
Diesmal war des
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