Maigret und der gelbe Hund
im Treppenhaus. Man hörte, wie er im ersten Stock, unmittelbar über Maigrets Kopf, seine Schuhe auszog. Im Café blieb nur noch das Serviermädchen und der Kommissar.
»Komm her!« sagte er und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
Und da sie in steifer Haltung stehen blieb, fügte er hinzu:
»Setz dich! Wie alt bist du?«
»Vierundzwanzig …«
Sie war von übertriebener Unterwürfigkeit. Die dunklen Ringe unter ihren Augen, ihre Art und Weise, ohne etwas anzustoßen, lautlos vorüberzuhuschen, beim geringsten Wort ängstlich zu zittern, paßten recht gut zu der Vorstellung von einer Spülmagd, die harte Worte gewohnt ist. Und doch spürte man, daß sich dahinter so etwas wie ein Anflug von Stolz verbarg, den sie bemüht war, nicht nach außen dringen zu lassen.
Sie litt an Blutarmut. Ihre flache Brust war nicht dazu geschaffen, Sinnlichkeit zu erwecken. Dennoch übte sie durch das, was an Unruhe, Entmutigung und Kränklichkeit in ihr war, Anziehungskraft aus.
»Was hast du gemacht, bevor du hier angefangen hast zu arbeiten?«
»Ich bin Waise. Mein Vater und mein Bruder sind im Meer ertrunken, auf dem Zweimaster ›Trois-Mages‹ … Meine Mutter ist schon lange tot … Ich war zuerst Verkäuferin in der Schreibwarenhandlung an der Place de la Poste …«
Wonach suchte ihr unruhiger Blick?
»Hast du einen Liebhaber?«
Ohne ein Wort zu sagen, wandte sie den Kopf ab, und Maigret, die Augen auf ihr Gesicht geheftet, rauchte langsamer und trank einen Schluck Bier.
»Es gibt doch bestimmt Gäste, die dir den Hof machen! Die, die vorhin hier waren, sind Stammgäste … Sie kommen jeden Abend … Sie mögen hübsche Mädchen … Also! Wer von ihnen?«
Noch bleicher, verzog sie überdrüssig den Mund und brachte hervor:
»Vor allem der Arzt …«
»Bist du seine Geliebte?«
Mit einer Anwandlung von Vertrauen sah sie ihn an.
»Er hat noch andere … Hin und wieder bin ich an der Reihe, wenn er Lust darauf hat … Er übernachtet hier … Und dann fordert er mich auf, zu ihm auf sein Zimmer zu kommen …«
Selten hatte Maigret ein derart plattes Geständnis gehört.
»Gibt er dir etwas dafür?«
»Ja … Nicht immer. Zwei- oder dreimal, als ich Ausgang hatte, hat er mich zu sich nach Hause kommen lassen. Erst vorgestern wieder … Er nutzt die Gelegenheit, daß seine Mutter verreist ist. Aber er hat noch andere Mädchen.«
»Und Monsieur Le Pommeret?«
»Genau das gleiche. Nur, daß ich erst einmal zu ihm gegangen bin, und das ist schon lange her. Eine Arbeiterin aus der Sardinenfabrik war dort und … und ich wollte nicht! Jede Woche haben sie andere …«
»Auch Monsieur Servières?«
»Das ist etwas anderes. Er ist verheiratet. Er amüsiert sich anscheinend in Brest. Hier schäkert er bloß und kneift mich im Vorbeigehen …«
Es regnete noch immer. In der Ferne heulte das Nebelhorn eines Schiffes, das wohl die Einfahrt in den Hafen suchte.
»Und das geht das ganze Jahr über so?«
»Nicht das ganze Jahr. Im Winter sind sie alleine. Hin und wieder trinken sie eine Flasche mit einem Vertreter. Aber im Sommer herrscht Hochbetrieb. Das Hotel ist voll. Abends trinken sie zu zehnt oder zu fünfzehnt Champagner oder halten in den Villen ihre Gelage ab … Mit Autos, schönen Frauen … Unsereins hat die Arbeit. Im Sommer bediene nicht ich, sondern Kellner. Ich bin dann unten, beim Geschirrspülen …«
Wonach suchte sie bloß ringsum? Sie saß schief auf dem Rand ihres Stuhls und schien drauf und dran, mit einem Ruck aufzustehen.
Eine schrille Klingel schellte. Sie sah Maigret an, dann die Klingeltafel hinter der Kasse.
»Sie erlauben?«
Sie ging hinauf. Der Kommissar hörte Schritte, ein verworrenes Gemurmel im Zimmer des Arztes.
Der Apotheker kam herein, ein wenig angetrunken.
»Es ist geschafft, Kommissar! Achtundvierzig Flaschen analysiert! Und zwar richtig, das können Sie mir glauben! Nirgendwo sonst eine Spur von Gift als im Pernod und im Calvados. Der Wirt braucht bloß seine Sachen wieder abholen zu lassen … Sagen Sie mal, unter uns, was meinen Sie? Anarchisten, oder nicht?«
Emma kam wieder, ging auf die Straße hinaus, um die Fensterläden zu schließen und wartete darauf, die Tür abschließen zu können.
»Na?« fragte Maigret, als sie erneut alleine waren.
Sie wandte den Kopf ab, ohne eine Antwort zu geben, mit unerwarteter Scham, und dem Kommissar kam es so vor, als würde sie in Tränen ausbrechen, wenn er sie nur ein wenig anstoßen würde.
»Gute Nacht, mein Kleines!«
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