Maigret und der Treidler der Providence
aber doch so gut aufgehoben, hier bei uns! Kann ich Sie einen Moment allein lassen? Sie werden ihn doch nicht quälen?«
Maigret deutete ein beschwichtigendes Kopfnicken an, ging in den Stall zurück und zog ein Metallkästchen aus der Tasche, das ein kleines, mit Stempelfarbe getränktes Kissen enthielt.
Man konnte noch immer nicht erkennen, ob der Treidler bei Bewußtsein war. Seine Lider waren halb geöffnet. Aus ihnen drang ein unbeteiligter, heiterer Blick.
Aber als der Kommissar die rechte Hand des Verletzten hochhob und einen Finger nach dem anderen auf das Stempelkissen drückte, hatte er den Eindruck, daß für den Bruchteil einer Sekunde erneut der Anflug eines Lächelns über das Gesicht des Alten huschte.
Er nahm die Fingerabdrücke auf einem Blatt Papier, beobachtete den Sterbenden einen Augenblick lang, als erhoffte er sich etwas davon, warf einen letzten Blick auf die Zwischenwände und auf die Kruppe der Pferde, die unruhig zu werden begannen, und ging hinaus.
In der Nähe des Steuerruders tranken der Schiffer und seine Frau ihren Milchkaffee, in den sie ihr Brot stippten, und sahen dabei zu ihm hinüber. Weniger als fünf Meter von der ›Providence‹ entfernt hatte die ›Southern Cross‹ festgemacht, aber auf Deck war niemand zu sehen.
Maigret holte sein Fahrrad von der Schleuse ab, wo er es am Abend zuvor hatte stehenlassen. Zehn Minuten später war er auf der Polizeiwache und schickte einen Beamten auf einem Motorrad nach Epernay, mit dem Auftrag, die Fingerabdrücke als Funkbild nach Paris zu schicken.
Als er an Bord der ›Providence‹ zurückkehrte, begleiteten ihn zwei Ärzte aus dem Krankenhaus, mit denen er sich auf eine heftige Diskussion einließ.
Die Ärzte wollten ihren Patienten zurückholen. Die Brüsselerin war beunruhigt und warf Maigret flehende Blicke zu.
»Können Sie ihn heilen?«
»Nein! Der Brustkorb ist zerquetscht. Eine Rippe ist in den rechten Lungenflügel eingedrungen.«
»Wie lange hat er noch zu leben?«
»Jeder andere wäre schon tot! Eine Stunde noch, vielleicht auch fünf.«
»Dann lassen Sie ihn in Ruhe!«
Der Alte hatte sich nicht gerührt, hatte nicht gezittert. Als Maigret an der Schiffersfrau vorbeiging, berührte sie scheu seine Hand, um ihre Dankbarkeit zu bekunden.
Die beiden Ärzte gingen mit verdrossenem Gesicht über die Laufplanke zurück.
»Ihn in einem Stall sterben zu lassen!« brummte der eine.
»Bah! Er hat da ja auch leben müssen …«
Der Kommissar postierte vorsorglich einen Beamten in der Nähe des Lastkahns und der Yacht, mit dem Auftrag, ihn zu benachrichtigen, falls etwas passierte.
Von der Schleuse aus setzte er sich telefonisch mit dem Café de la Marine in Dizy in Verbindung und erfuhr, daß Inspektor Lucas vor wenigen Minuten dagewesen war und in Epernay einen Wagen gemietet hatte, um sich nach Vitry-le-François fahren zu lassen.
Die nächste Stunde war lang und ereignislos. Der Schiffer der ›Providence‹ nutzte die Wartezeit, um das Beiboot zu teeren, das er im Schlepp hatte. Wladimir brachte die Messingarmaturen der ›Southern Cross‹ auf Hochglanz.
Die Frau hingegen sah man unablässig über Deck laufen, von der Küche zum Stall. Einmal hatte sie ein blendend weißes Kopfkissen in der Hand, ein anderes Mal eine Schale mit einer dampfenden Flüssigkeit, wahrscheinlich der Bouillon, die sie unbedingt hatte kochen wollen.
Gegen elf Uhr traf Lucas im Hôtel de la Marne ein, wo Maigret ihn erwartete.
»Wie geht’s, Alter?«
»Wie es so geht! Sie sehen müde aus, Chef.«
»Und Ihre Ermittlungen?«
»Nichts Besonderes! In Meaux rein gar nichts, außer daß die Yacht einen kleinen Skandal ausgelöst hatte. Die Schiffer, die wegen der Musik und der Singerei nicht hatten schlafen können, hatten gedroht, alles kurz und klein zu schlagen.«
»War die ›Providence‹ auch dort gewesen?«
»Die hatte weniger als zwanzig Meter von der ›Southern Cross‹ entfernt geladen. Aber niemand hatte etwas Besonderes bemerkt.«
»Und in Paris?«
»Ich habe die beiden Mädchen noch einmal aufgesucht. Sie gaben zu, daß nicht Mary Lampson ihnen die Kette gegeben hatte, sondern Willy Marco. Das wurde mir dann auch im Hotel bestätigt, wo man sein Foto wiedererkannt hat, aber Mary Lampson nicht gesehen hatte. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, daß Lia Lauwenstein mit Willy enger befreundet war, als sie zugeben wollte, und daß sie ihm in Nizza schon einmal geholfen hatte.«
»Was gab’s in Moulins?«
»Nichts!
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