Maigret und der Treidler der Providence
Ich habe die Bäckersfrau besucht, die tatsächlich die einzige Marie Dupin am Ort ist. Eine harmlose, biedere Frau, die nichts von dem begreift, was ihr da widerfährt, und jammert, weil sie fürchtet, daß sie durch diese Geschichte ins Gerede kommen könnte. Der Auszug aus dem Geburtenregister ist acht Jahre alt. Aber seit drei Jahren ist ein neuer Standesbeamter da, und der alte ist letztes Jahr gestorben. Sie haben die Archive durchgesehen, aber nichts gefunden, was mit dieser Urkunde zusammenhängt.«
Nach kurzem Schweigen fragte Lucas:
»Und Sie?«
»Ich weiß noch nicht … Nichts! Oder alles! Das wird sich in einer der nächsten Stunden entscheiden … Was erzählt man sich in Dizy?«
»Daß man die ›Southern Cross‹ bestimmt nicht hätte weiterfahren lassen, wenn sie nicht eine vornehme Yacht gewesen wäre. Und daß Mary Lampson schließlich nicht die erste Frau des Colonels gewesen sei.«
Maigret schwieg und führte seinen Begleiter durch die Straßen der kleinen Stadt zum Postamt.
»Verbinden Sie mich mit dem Erkennungsdienst in Paris.«
Das Funkbild mit den Fingerabdrücken des Treidlers mußte vor etwa zwei Stunden bei der Präfektur eingegangen sein. Und von nun an war es ein Glücksspiel. Man konnte die Karte mit den gleichen Fingerabdrücken auf Anhieb unter den achtzigtausend anderen finden; die Suche konnte aber auch Stunden dauern.
»Nehmen Sie einen Hörer, alter Junge … Hallo! Wer ist am Apparat? Sind Sie es, Benoît? … Hier Maigret. Ist meine Nachricht angekommen? … Was sagen Sie? … Sie haben sich selbst um die Sache gekümmert? … Warten Sie einen Augenblick …«
Er verließ die Kabine und wandte sich zum Schalter.
»Es kann sein, daß ich die Verbindung sehr lange brauche! Achten Sie darauf, daß sie keinesfalls unterbrochen wird.«
Als er den Hörer wieder nahm, war sein Blick hellwach.
»Setzen Sie sich, Benoît, ich möchte nämlich, daß Sie mir die ganze Akte vorlesen. Lucas steht hier neben mir und wird sich Notizen machen. Schießen Sie los.«
Er sah seinen Gesprächspartner so deutlich vor sich, als stünde er ihm gegenüber, denn er kannte die Räume oben im Dachgeschoß des Justizpalastes, wo in hohen Stahlschränken die Karteikarten aller Verbrecher Frankreichs und auch zahlreicher ausländischer Krimineller aufbewahrt werden.
»Zunächst seinen Namen.«
»Jean Evariste Darchambaux, geboren in Boulogne, jetzt fünfundfünfzig Jahre alt.«
Automatisch suchte Maigret sich eines Falles mit diesem Namen zu erinnern, aber schon sprach Benoît mit gleichgültiger, die Silben deutlich betonender Stimme weiter, während Lucas mitschrieb:
»Doktor der Medizin. Heiratet mit fünfundzwanzig Jahren eine gewisse Céline Mornet aus Etampes. Läßt sich in Toulouse nieder, wo er studiert hat … Ziemlich bewegtes Leben … Können Sie mich verstehen, Kommissar?«
»Bestens! Weiter.«
»Ich habe mir das ganze Dossier vorgenommen, denn auf der Karteikarte steht so gut wie nichts … Das Paar steckt innerhalb kürzester Zeit bis über beide Ohren in Schulden. Zwei Jahre nach seiner Heirat, mit siebenundzwanzig Jahren, wird Darchambaux angeklagt, seine Tante vergiftet zu haben, Julia Darchambaux, die zu den jungen Leuten nach Toulouse gezogen war, deren Lebensstil aber mißbilligte. Die Tante war begütert. Die Darchambaux’ sind die einzigen Erben.
Das Ermittlungsverfahren dauert acht Monate, denn man findet keinen hieb- und stichfesten Beweis. Zumindest behauptet der Angeklagte – und einige Sachverständige geben ihm darin recht –, daß die Medikamente, die er der alten Dame verschrieben hat, kein Gift im eigentlichen Sinne seien und daß es sich nur um eine riskante Therapie gehandelt habe. Es gibt heftige Auseinandersetzungen darüber … Die Protokolle wollen Sie doch nicht vorgelesen haben, oder?
Im Prozeß geht es hoch her, und der Saal muß wiederholt geräumt werden. Die meisten glauben an einen Freispruch, vor allem nach der Aussage der Frau, die unter Eid beteuert, ihr Mann sei unschuldig, und wenn man ihn in die Sträflingskolonie verbanne, dann werde sie ihm dorthin folgen.«
»Verurteilt?« fragte Maigret.
»Fünfzehn Jahre Straflager … Warten Sie! Das ist alles, was in unseren Unterlagen steht. Aber ich habe jemanden mit dem Fahrrad zum Innenministerium hinübergeschickt, und er kommt gerade zurück …«
Man hörte, wie er mit jemandem sprach, der hinter ihm stand, und dann mit Papier raschelte.
»Hier! Viel gibt das nicht her … Der
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