Maigret und der Treidler der Providence
hatte er seine Pfeife aus der Tasche gezogen, aber es kam ihm nicht in den Sinn, sie zu stopfen.
War die Reaktion nicht die, die er sich erhofft hatte? Jedenfalls ließ er sich auf die Bank an der Stallwand fallen, beugte sich vor, das Kinn in den Händen, und begann erneut in einem ganz anderen Tonfall:
»Hören Sie. Bleiben Sie ganz ruhig. Ich weiß, daß Sie nicht sprechen können …«
Ein ungewohnter Schatten, der über das Stroh glitt, ließ ihn den Kopf heben, und er erblickte den Colonel, der auf dem Deck des Kahns stand, am Rand der geöffneten Luke.
Der Engländer rührte sich nicht und fuhr fort, die Szene, über den Köpfen der drei Männer stehend, von oben herab zu verfolgen.
Lucas hielt sich im Hintergrund, soweit das in der Enge des Pferdestalls möglich war. Maigret sprach weiter, wenn auch etwas nervöser:
»Niemand wird Sie von hier wegbringen. Sie verstehen mich doch, Darchambaux? In einigen Minuten werde ich mich zurückziehen. Madame Hortense wird dann wieder meinen Platz einnehmen.«
Es war herzzerreißend, ohne daß man genau hätte sagen können, warum. Maigret sprach unwillkürlich fast ebenso sanft wie die Brüsselerin.
»Aber zuerst müssen Sie mir ein paar Fragen beantworten, indem Sie die Augen schließen, wenn Sie mir zustimmen. Es gibt mehrere Personen, die in der Gefahr schweben, von einer Stunde zur nächsten unter Anklage gestellt und verhaftet zu werden. Und das wollen Sie doch nicht, oder? Deshalb brauche ich Sie, damit Sie mir die Wahrheit bestätigen.«
Während er sprach, hörte der Kommissar nicht auf, den Mann zu beobachten und sich zu fragen, wen er in diesem Moment vor sich hatte: den Arzt von damals, den verstockten Sträfling, den stumpfsinnigen Treidler, oder aber den brutalen Mörder von Mary Lampson.
Seine Gestalt war ungeschlacht, seine Züge derb. Aber lag nicht ein neuer Ausdruck in seinen Augen, aus denen alle Ironie gewichen war?
Ein Ausdruck unendlicher Traurigkeit.
Zweimal versuchte Jean zu sprechen. Zweimal hörte man ein Geräusch, das dem Klagelaut eines Tieres glich, und rosa Speichel trat auf die Lippen des Sterbenden.
Maigret sah noch immer den Schatten der Beine des Colonels.
»Als man Sie damals in die Sträflingskolonie deportierte, waren Sie doch überzeugt, daß Ihre Frau sich an ihr Versprechen halten und Ihnen dorthin folgen würde. Sie ist es, die Sie in Dizy umgebracht haben!«
Kein Zucken! Nichts! Das Gesicht nahm eine aschfahle Farbe an.
»Sie ist nicht gekommen und … Sie haben den Mut verloren … Sie … Sie wollten alles vergessen, sogar Ihre eigene Identität.«
Maigret sprach jetzt schneller, wie von Ungeduld ergriffen. Er wollte es rasch hinter sich bringen. Vor allem aber fürchtete er, Jean mitten in diesem grausigen Verhör sterben zu sehen.
»Durch einen Zufall kreuzten sich Ihre Wege wieder, nachdem Sie selbst ein anderer Mensch geworden waren … Das war in Meaux, nicht wahr?«
Er mußte eine ganze Weile warten, bis der Treidler sich gehorsam bereitfand, zum Zeichen der Bestätigung die Lider zu schließen.
Der Schatten der Beine bewegte sich. Der Kahn schwankte einen Augenblick, als ein Motorschiff vorbeifuhr.
»Sie aber war dieselbe geblieben! Hübsch, kokett und lebenslustig! Auf dem Deck der Yacht wurde getanzt. Der Gedanke, sie umzubringen, war Ihnen nicht gleich gekommen. Sonst wäre es nicht nötig gewesen, sie erst nach Dizy zu bringen.«
Hörte der Sterbende überhaupt noch zu? So, wie er lag, mußte er den Colonel gerade über sich sehen. Aber sein Blick war ausdruckslos. Jedenfalls war ihm nichts Bestimmtes zu entnehmen.
»Sie hatte geschworen, Ihnen überallhin zu folgen. Sie waren im Straflager gewesen. Dann lebten Sie hier in einem Pferdestall. Und plötzlich war Ihnen der Gedanke gekommen, sie zu sich zurückzuholen, so wie sie war, mit ihrem Schmuck, ihrem geschminkten Gesicht, ihrem weißen Kleid, und sie Ihr Strohlager teilen zu lassen. So war es doch, Darchambaux?«
Die Augenlider bewegten sich nicht. Aber die Brust hob sich. Wieder war ein Röcheln zu hören. Lucas, der es nicht mehr ertragen konnte, wand sich in seiner Ecke.
»So war es! Ich spüre es!« sagte Maigret immer schneller, wie von Schwindel ergriffen.
Beim Anblick seiner früheren Frau stiegen in Jean, dem Treidler, der fast schon vergessen hatte, daß er einmal Dr. Darchambaux gewesen war, die Bilder der Vergangenheit wieder auf, Erinnerungen an früher. Und eine seltsame Rache begann in seinen Gedanken Gestalt anzunehmen.
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