Maigret und die Affäre Saint Fiacre
einem Run d funkunternehmen beteiligt …«
Ein dumpfer Knall, rechts drüben, jenseits des Notre-Dame-Teichs. Man sah einen Jäger mit großen Schritten auf das erlegte Tier zugehen, nach dem sein Hund b e reits schnappte.
»Das ist Gautier, der Verwalter …«, erklärte Maurice. »Er muß zur Jagd aufgebrochen sein, bevor …«
Dann, plötzlich, verlor er vorübergehend seine Fassung, stampfte mit dem Fuß auf, verzog das Gesicht, ließ beinahe ein Schluchzen laut werden.
»Arme Alte! …« murmelte er mit bitter verzerrten Lippen. »Es ist … es ist so gemein! … Und Jean, dieser kleine Schweinehund, der …«
Wie durch Hexerei wurde dieser gerade im Schloßhof sichtbar, wo er neben dem Arzt hin- und herging, wobei er nach den heftigen Gesten seiner dünnen Arme zu schließen erregt auf diesen einredete.
Im Wind war dann und wann der Duft von Chrysanthemen wahrzunehmen.
3
Der Chorknabe
D
a war kein Sonnenlicht, das die Sicht verfälschte, auch kein Nebel, der die Umrisse verwischte. Jedes Ding trat mit unbarmherziger Deutlichkeit he r vor: die Baumstämme, die toten Äste, die Schotte r steine, besonders die schwarze Kleidung der Friedhofbesucher. Weißes dagegen, Gra b steine, gesteifte Hemdbrüste, die Hauben der alten Frauen, das bekam eine fast unwirkliche Intensität: weißer als Weiß, knallweiß!
Ohne den eisigen Wind, der in die Wangen biß, hätte man sich unter einer leicht staubigen Glasglocke wä h nen können.
»Ich sehe Sie später wieder!«
Maigret trennte sich beim Friedhofstor vom Grafen Saint-Fiacre. Eine alte Frau auf einer kleinen Sitzbank, die sie mitgebracht hatte, versuchte ihre Apfelsinen und Schokolade an den Mann zu bringen.
Die Apfelsinen! Dick, unreif, eiskalt! … Sie zogen e i nem den Mund zusammen und brannten im Hals, doch als Zehnjähriger hatte Maigret sie trotzdem verschlu n gen, weil es Apfelsinen waren.
Den Samtkragen seines Mantels hatte er hochgeschlagen. Er schaute niemand an. Er wußte, daß er nach links gehen mußte, und daß das Grab, das er suchte, das dri t te nach der Zypresse war.
Überall ringsum waren die Gräber mit Blumen geschmückt. Am Vorabend hatten Frauen manche Grabsteine mit Bürste und Seifenwasser abgeschrubbt. Die Gitter waren frisch gestrichen.
Hier ruht Evariste Maigret …
»Entschuldigung, da wird nicht geraucht!«
Dem Kommissar wurde kaum bewußt, daß jemand ihn ansprach. Endlich erkannte er den Glöckner, der z u gleich Friedhofwärter war, und stopfte seine Pfeife noch brennend in die Tasche.
Es gelang ihm nicht, nur an eine Sache aufs mal zu denken. Erinnerungen stürmten auf ihn ein, Erinnerungen an den Vater, an einen Schulkameraden, der im Notre-Dame-Teich ertrunken war, an den Säugling vom Schloß in seinem feinen Kinderwagen.
Leute schauten ihn an. Er schaute sie an. Diese Gesichter hatte er doch früher schon gesehen. Damals aber war beispielsweise dieser Mann dort mit einem kleinen Jungen auf dem Arm und einer schwangeren Frau hinter sich ein vier- oder fünfjähriger Bub gewesen …
Maigret hatte keine Blumen. Das Grab war ungepflegt. Er ging davon, mürrisch, halblaut vor sich hi n brummend, was eine ganze Gruppe dazu brachte, sich nach ihm umzudrehen.
»Vor allem sollte man das Meßbuch wiederfinden!«
Er hatte keine Lust, zum Schloß zurückzugehen. Etwas dort widerte ihn an, empörte ihn sogar.
Gewiß, er machte sich über Menschen keine Illusionen. Doch es erbitterte ihn, daß man ihm seine Kin d heitserinnerungen verdarb! Die Gräfin vor allem, die ihm immer edel und schön wie ein Bilderbuchgeschöpf erschienen war …
Und jetzt war daraus eine alte Närrin geworden, die Gigolos aushielt!
Nicht einmal das! Jedenfalls nicht offen, ungeheuchelt. Der famose Jean wurde als Sekretär ausgegeben. Er sah nicht besonders gut aus, war auch nicht mehr ganz jung!
Und die arme Alte, wie ihr Sohn sagte, hatte im Zwiespalt zwischen Schloß und Kirche gelebt!
Und dem letzten Grafen de Saint-Fiacre stand die Verhaftung bevor, wegen Ausstellung eines ungedeckten Schecks!
Jemand mit geschultertem Jagdgewehr marschierte vor Maigret her, und der Kommissar merkte plötzlich, daß er auf das Verwalterhaus zuschritt. Er meinte, die Gestalt wiederzuerkennen, die er von weitem in den Feldern g e sehen hatte.
Wenige Meter trennten die zwei Männer, die nun den Hof erreichten, wo ein paar Hühner sich an eine Mauer duckten, vom Wind geschützt, mit gesträubtem Gefi e der.
»Hallo!«
Der Mann mit dem Gewehr
Weitere Kostenlose Bücher