Maigret und die Unbekannte
Wahrheit gesagt hatte, aber bis jetzt war sie der einzige Mensch, der die Tote von der Place Vintimille wiedererkannt hatte.
Je mehr Zeit verging, desto mehr wunderte er sich, daß niemand anrief.
Wenn die Unbekannte in Paris gewohnt hatte, ließen sich die verschiedensten Hypothesen aufstellen. Hätte sie zum Beispiel bei ihren Eltern gewohnt, wären diese, nachdem sie das Foto in der Zeitung gesehen hatten, sofort zum nächsten Polizeirevier oder zum Quai des Orfevres gestürzt.
Wenn sie eine eigene Wohnung gehabt hatte, kannten sie die Concierge und die Nachbarn und wahrscheinlich auch die Leute aus den Läden in der Nähe, in denen sie ihre Besorgungen machte.
Hatte sie mit einer Freundin zusammengelebt, wie das häufig der Fall ist? Dann würde sich diese Freundin über ihr Verschwinden beunruhigen und sie auf dem Foto erkennen.
Sie konnte aber auch in einem Heim für Studentinnen oder für berufstätige junge Mädchen gewohnt haben, wie es deren mehrere gibt, und dann würden sie noch viel mehr Menschen kennen.
Schließlich blieb noch die Vermutung, daß sie in einem der vielen kleinen Hotels in Paris gewohnt hatte.
Maigret rief das Büro der Inspektoren an.
»Ist Torrence da? Hat er im Augenblick nichts zu tun? Dann soll er eben mal zu mir kommen.« Wenn sie bei ihren Eltern oder irgendwo allein möbliert oder mit einer Freundin zusammengewohnt hatte, brauchte man nur zu warten. Aber in den anderen Fällen konnte man selber etwas unternehmen.
»Setz dich, Torrence. Sieh dir das Foto dort an. Heute nachmittag werden wir ein besseres haben. Stell dir vor, das junge Mädchen trüge ein schwarzes Kleid und einen karierten beigefarbenen Mantel. In dieser Kleidung hat man sie für gewöhnlich gesehen.«
Gerade in diesem Augenblick glitt ein Sonnenstrahl durch das Fenster und zeichnete eine helle Linie auf den Schreibtisch. Maigret unterbrach sich einen Moment, um ihn verwundert zu betrachten, so wie man einen Vogel betrachtet, der sich auf dem Fensterbrett niederläßt.
»Zunächst geh einmal zur Fremdenpolizei hinunter und bitte, daß man das Foto in den kleinen Hotels zeigt. Am besten fängt man damit im 9. oder 18. Arrondissement an. Verstehst du, was ich meine?«
»Ja. Wissen Sie ihren Namen?«
»Nein.
Du wirst dir dann alle Heime für junge Mädchen notieren und sie aufsuchen. Wahrscheinlich wird das zu nichts führen, aber ich will keine Möglichkeit versäumen.«
»Gut.«
»Das ist im Augenblick alles. Nimm dir aber einen Wagen, damit es schneller geht.«
Es wurde plötzlich warm, und er öffnete das Fenster, sah dann noch ein paar Papiere auf seinem Schreibtisch durch, blickte auf die Uhr und beschloß, schlafen zu gehen.
»Weck mich um vier Uhr«, sagte er zu seiner Frau.
»Wenn’s sein muß.«
Es mußte nicht sein. Im Grunde brauchte er nur zu warten. Er schlief fast sofort ein, versank in einen tiefen Schlaf, und als seine Frau mit einer Tasse Kaffee in der Hand ans Bett trat, sah er sie erstaunt an, als wüßte er gar nicht, wo er sei.
»Es ist vier Uhr. Du hast mir gesagt…«
»Ja… Hat niemand angerufen?«
»Nur der Klempner, um mir zu sagen…«
Die erste Ausgabe der Abendzeitungen war gegen eins herausgekommen. Sie brachten alle das gleiche Foto wie die Morgenzeitungen.
Obwohl die Tote ein wenig entstellt war, hatte Mademoiselle Irene sie auf den ersten Blick erkannt, auch wenn sie sie nur zweimal gesehen hatte.
Es blieb die Möglichkeit, daß das junge Mädchen nicht in Paris gelebt hatte, daß sie nicht in einem Hotel abgestiegen, daß sie die beiden Male, wo sie die Rue de Douai aufgesucht hatte, erst wenige Stunden vorher in Paris angekommen war.
Das war aber unwahrscheinlich, weil außer dem Kleid, das sie sich selber gemacht hatte, alle übrigen Sachen in dem Warenhaus in der Rue Lafayette gekauft waren.
»Bist du zum Abendessen wieder da?«
»Vielleicht.«
»Wenn du heute abend unterwegs sein mußt, zieh auf jeden Fall deinen dicken Mantel an, denn nach Sonnenuntergang wird es kühl sein.«
Als er in sein Büro kam, lag keine Meldung auf seiner Schreibunterlage. Verdrossen darüber rief er Lucas.
»Immer noch nichts? Kein Telefonanruf?«
»Immer noch nichts, Chef. Ich habe Ihnen aber die Akte von Elisabeth Coumar gebracht.«
Im Stehen blätterte er sie durch, ohne jedoch etwas anderes darin zu finden als das, was er schon von Lognon wußte.
»Lapointe hat die Fotos an die Zeitungen geschickt.«
»Ist er hier?«
»Er wartet auf Sie.«
»Dann soll er
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