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Maigret und die Unbekannte

Maigret und die Unbekannte

Titel: Maigret und die Unbekannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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verstehen, was sie ihrer Sklavin oder ihrem Schützling sagte.
    »Viviane glaubt auch, einen Schlüssel gesehen zu haben«, sagte sie dann.
    »Einen flachen Schlüssel?«
    »Ja, wissen Sie, wie die meisten Schlüssel, die man heutzutage hat.«
    »Hatte sie nicht auch Geld in der Tasche?«
    »Ja, ich erinnere mich. Ein paar zusammengefaltete Scheine. Vielleicht zwei oder drei Hundertfrancscheine. Ich habe bei mir gedacht: Damit wird sie nicht weit kommen.«
    »Sonst nichts?«
    »Nein. Ich glaube, das war alles.«
    Es klopfte an die Tür. Es war Janvier, der eben gekommen war und dem der Anblick der Fotos auf dem Schreibtisch ebenso den Atem verschlug wie Maigret.
    »Haben Sie Fotos von ihr aufgestöbert?« fragte er verwundert.
    Aber dann runzelte er die Brauen und betrachtete die Bilder näher.
    »Die sind wohl oben gemacht worden?«
    Schließlich murmelte er:
    »Seltsames Mädchen, was?«
    Sie wußten immer noch nichts von ihr. Außer einer Frau, die gelegentlich Kleider verlieh, schien niemand sie zu kennen.
    »Was machen wir nun?«
    Maigret konnte nur die Schultern zucken:
    »Wir müssen warten!«

 
    DRITTES KAPITEL
     
     
     
    Maigret war, ein wenig mißgelaunt und enttäuscht, bis sieben Uhr abends am Quai geblieben und dann mit dem Autobus nach Hause gefahren. Auf einem kleinen Tisch lag eine Zeitung, auf deren erster Seite er das Bild der Unbekannten sah, und in der Unterschrift stand gewiß, daß Kommissar Maigret sich mit dem Fall befasse.
    Seine Frau stellte ihm dennoch keine Frage, sie versuchte auch nicht, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Als sie sich beim Essen gegenübersaßen und schon beim Nachtisch waren, sah er sie plötzlich an und stellte zu seiner Überraschung fest, daß auch sie sich Sorgen machte.
    Er fragte sich nicht, ob sie an das gleiche dachte wie er. Später setzte er sich in seinen Sessel, zündete die Pfeife an und überflog die Zeitung, während Madame Maigret den Tisch abräumte und das Geschirr abwusch. Erst als sie sich, mit ihrem Stopfkorb auf dem Schoß, zu ihm setzte, beobachtete er sie zwei- oder dreimal verstohlen und murmelte schließlich wie beiläufig:
    »Ich möchte wissen, bei welchen Gelegenheiten ein junges Mädchen unbedingt ein Abendkleid tragen zu müssen glaubt.«
    Warum war er sicher, daß sie die ganze Zeit ebenfalls darüber nachgedacht hatte? Sie stieß einen kleinen befriedigten Seufzer aus, und er hätte schwören mögen, daß sie nur darauf gewartet hatte, daß er davon sprach.
    »Vielleicht ist das gar nicht etwas so Besonderes«, sagte sie.
    »Wie meinst du das?«
    »Ein Mann zum Beispiel würde bestimmt nicht auf den Gedanken kommen, sich ohne Grund in Smoking oder Frack zu werfen. Als ich dreizehn Jahre alt war, habe ich Stunden und Stunden damit verbracht, mir heimlich ein altes Abendkleid, das meine Mutter abgelegt hatte, umzuändern, daß es mir paßte.«
    Er blickte sie überrascht an, als entdeckte er plötzlich etwas an seiner Frau, von dem er bislang nichts wußte.
    »Abends, wenn sie glaubte, ich schliefe schon längst, stand ich manchmal auf, um das Kleid anzuziehen und mich im Spiegel zu bewundern. Und als meine Eltern einmal aus waren, bin ich in diesem Kleid und in den Schuhen meiner Mutter, die mir viel zu groß waren, bis zur Straßenecke gegangen.«
    Er schwieg eine ganze Weile, ohne zu merken, daß sie beim Beichten ihrer Sünden errötet war.
    »Na ja, du warst da erst dreizehn«, sagte er schließlich.
    »Eine meiner Tanten, Tante Cecile – du hast sie nicht mehr gekannt, aber ich habe dir oft von ihr erzählt, sie war ein paar Jahre lang steinreich, aber dann hat ihr Mann von einem Tag zum andern sein ganzes Vermögen verloren – schloß sich oft in ihrem Schlafzimmer ein und verbrachte Stunden damit, sich zu frisieren und anzuziehen, als ob sie in eine Opernpremiere gehen wollte. Wenn jemand an die Tür klopfte, sagte sie, sie habe Migräne. Eines Tages habe ich durchs Schlüsselloch geguckt und gesehen, was sie machte. Sie betrachtete sich im Spiegel des Schranks und spielte dabei lächelnd mit ihrem Fächer.«
    »Nun, das ist schon lange her.«
    »Glaubst du, die Frauen hätten sich geändert?«
    »Es muß ein ernsterer Grund sein, wenn ein Mädchen abends um neun bei Mademoiselle Irene anklopft, ein Abendkleid haben will, obwohl sie nur zwei- oder dreihundert Francs in der Tasche hat, es dann sofort anzieht und in den Regen hinausgeht.«
    »Ich meine, der Grund dafür brauchte nicht unbedingt einer zu sein, den ein Mann als

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