Maigret und Pietr der Lette
betrunken?«
»Sie hat ein paar Cocktails getrunken, ja. Sie erklärt, daß sie nicht eher in ihr Appartement zurückkehrt, bis ihr Mann wieder da ist. Ist …?«
»Was?«
»Hallo! Hier ist der Geschäftsführer …«, sagte eine andere Stimme. »Gibt es was Neues? … Glauben Sie, daß diese Geschichte in den Zeitungen stehen wird?«
Maigret war unverschämt genug, aufzulegen. Um dem Fotografen einen Gefallen zu tun, warf er einen Blick auf die zum Trocknen ausgelegten, noch feuchten und glänzenden Abzüge.
Gleichzeitig redete er mit Torrence.
»Sie, mein Lieber, quartieren sich im Majestic ein. Aber lassen Sie sich vor allem nicht von dem Geschäftsführer aus der Fassung bringen.«
»Und Sie, Chef?«
»Ich gehe in mein Büro. Um halb sechs fährt ein Zug nach Fécamp. Es lohnt sich nicht, nach Hause zu gehen und meine Frau aufzuwecken. Sagen Sie … Die Brasserie muß doch noch aufhaben. Wenn Sie vorbeikommen, bestellen Sie mir noch ein Glas …«
»Eins …?« wiederholte Torrence mit Unschuldsmiene.
»Ja, mein Lieber! Der Kellner ist schlau genug, darunter drei oder vier zu verstehen. Er soll auch noch ein paar Sandwiches dazulegen.«
Hintereinander stiegen sie eine nicht endenwollende Wendeltreppe hinab.
Alleingeblieben, betrachtete der Fotograf, der einen schwarzen Kittel trug, wohlgefällig die Abzüge, die er gemacht hatte, und begann mit der Numerierung.
Auf einem eiskalten Hof trennten sich die beiden Polizeibeamten.
»Sollten Sie das Majestic aus dem einen oder anderen Grund verlassen, beordern Sie einen von uns da hin!« wies ihn der Kommissar an. »Wenn es erforderlich ist, werde ich dort anrufen …«
Und er kehrte in sein Büro zurück und schürte den Ofen, daß fast der Feuerrost zerbrach.
4
Der Zweite Offizier vom ›Seeteufel‹
Der Bahnhof von La Bréauté, wo Kommissar Maigret morgens um halb acht die Hauptstrecke Paris-Le Havre verließ, vermittelte ihm einen Vorgeschmack von Fécamp.
Eine schlecht beleuchtete Bahnhofswirtschaft mit schmutzigen Wänden und einer Theke, auf der ein paar trockene Kuchen schimmelten und drei Bananen mit fünf Apfelsinen versuchten, eine Pyramide zu bilden.
Hier machte sich das Unwetter noch stärker bemerkbar. Es goß in Strömen. Um von einem Bahnsteig zum anderen zu gelangen, mußte man bis zu den Knöcheln im Matsch waten.
Ein schäbiger kleiner Zug, der aus ausrangierten Waggons zusammengesetzt war. Im fahlen Licht des anbrechenden Tages zeichneten sich undeutlich Bauernhöfe ab, die hinter den Regenschraffuren fast verschwanden.
Fécamp! Ein strenger Geruch nach Dorsch und Hering. Haufen von Fässern. Masten hinter den Lokomotiven. Irgendwo heulte eine Sirene.
»Zum Quai des Beiges?«
Gleich geradeaus. Er brauchte nur durch die dicken Pfützen zu gehen, in denen Fischschuppen schimmerten und Eingeweide faulten.
Der Kunstfotograf war zugleich Krämer und Zeitschriftenhändler. Er verkaufte Südwester, rote Seemannsblusen aus Segeltuch, Hanfseile und Neujahrskarten.
Ein schmächtiger, farbloser Mann, der seine Frau zu Hilfe rief, sobald das Wort Polizei gefallen war. Und sie, eine schöne Normannin, sah Maigret in die Augen, schien ihn herauszufordern.
»Können Sie mir sagen, welches Foto in diesem Umschlag gesteckt hat?« Es dauerte lange. Jedes Wort mußte er dem Fotografen aus der Nase ziehen, für ihn nachdenken.
Das Bild war mindestens acht Jahre alt, denn seit jener Zeit machte der Fotograf keine solchen Aufnahmen mehr. Er hatte sich einen neuen Apparat für Postkartenformat gekauft.
Wer hatte sich vor acht Jahren fotografieren lassen? Herr Moutet brauchte eine Viertelstunde, um sich daran zu erinnern, daß er einen Abzug von jedem bei ihm gemachten Porträt in einem Album aufbewahrte.
Seine Frau ging das Album holen. Seeleute kamen und gingen. Kinder verlangten für einen Sou Bonbons. Draußen knarrten Schiffstakelagen. Man hörte, wie das Meer lauter Kieselsteine an den Deich kullern ließ.
Maigret blätterte in dem Album und präzisierte:
»Eine junge Frau mit sehr feinem braunem Haar …«
Das genügte.
»Frau Swaan!« rief der Fotograf.
Er fand das Bild sofort. Es war das einzige Mal, daß er ein vorzeigbares Modell gehabt hatte.
Die Frau war hübsch. Sie schien etwa zwanzig Jahre alt zu sein. Das Foto paßte genau in den Umschlag.
»Wer ist das?«
»Sie wohnt noch immer in Fécamp. Aber jetzt besitzt sie eine Villa am Rande der Steilküste, fünf Minuten vom Kasino …«
»Verheiratet?«
»Damals war sie
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