Maigret und Pietr der Lette
sich herausgestellt, daß ein Passagier ohne Fahrkarte gereist ist. Der Tote oder der Mörder! Vermutlich ist er in Brüssel von der anderen Zugseite aus zugestiegen. In Pullmanwagen kann man sich dank der großräumigeren Gepäckflächen leichter verstecken als in Abteilwagen. Zwischen Brüssel und der Grenze hat der Lette Tee getrunken und einen Stapel englischer und französischer Zeitungen durchgeblättert, darunter auch mehrere Wirtschaftsblätter. Zwischen Maubeuge und Saint-Quentin hat er sich zum Waschraum begeben. Der Oberkellner erinnert sich daran, weil er im Vorbeigehen zu ihm gesagt hat: ›Bringen Sie mir bitte einen Whisky.‹«
»Und hat er dann später seinen Platz wieder eingenommen?«
»Eine Viertelstunde danach saß er vor seinem Whisky. Aber der Oberkellner hat ihn nicht zurückkommen sehen.«
»Hat später niemand versucht, den Waschraum zu benutzen?«
»Verzeihen Sie! Eine Reisende hat an der Tür gerüttelt. Das Schloß hat geklemmt. Erst bei der Einfahrt in Paris ist es einem Eisenbahnbeamten gelungen, es aufzubrechen, und dabei hat er entdeckt, daß es durch Eisenspäne blockiert war.«
»Bis dahin hatte niemand den zweiten Pietr gesehen?«
»Niemand! Er hätte sonst die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, denn er hatte so abgetragene Kleider an, wie man sie in solchen Luxuszügen kaum findet.«
»Die Kugel?«
»Aus nächster Nähe abgefeuert. Automatischer 6-mm-Revolver. Der Schuß hat eine derartige Brandwunde verursacht, daß der Arzt behauptet, sie allein hätte genügt, um den Tod herbeizuführen.«
»Keine Kampfspuren.«
»Nicht die geringste! Die Taschen waren leer.«
»Ich weiß …«
»Pardon! Aber das hier habe ich gefunden. In einer kleinen zugeknöpften Innentasche der Weste.«
Torrence nahm ein Seidenpapiertütchen aus seiner Brieftasche, durch das man eine braune Haarlocke schimmern sah.
»Geben Sie her!«
Maigret aß und trank weiter.
»Frauen- oder Kinderhaare?«
»Von einer Frau, behauptet der Gerichtsmediziner. Ich habe ihm einige davon überlassen, die er gründlich untersuchen will, wie er mir versprach.«
»Die Autopsie?«
»Um zehn Uhr war alles vorbei. Wahrscheinliches Alter: 32 Jahre, Größe 1,68 m.
Keinerlei erbliche Belastung. Eine Niere ist allerdings in nicht sehr gutem Zustand und läßt vermuten, daß der Mann Alkoholiker war. Der Magen enthielt noch Tee und ein bißchen verdaute Nahrung, die unmöglich auf der Stelle analysiert werden konnte. Man wird sich morgen damit befassen. Wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind, wird der Körper im gerichtsmedizinischen Institut aufbewahrt und dort eingefroren.«
Maigret wischte sich die Lippen ab, nahm seinen Lieblingsplatz vor dem Ofen ein und streckte eine Hand aus, in die Torrence reflexhaft seinen Tabak hineinlegte.
»Was mich betrifft«, sagte darauf der Kommissar, »so habe ich Pietr oder den, der seinen Platz eingenommen hat, im Majestic gesehen, wo er in Gesellschaft der Mortimer-Levingstons zu Abend gegessen hat, mit denen er verabredet gewesen zu sein schien.«
»Den Milliardären?«
»Ja. Nach dem Essen ist Pietr wieder in sein Appartement zurückgekehrt. Ich habe den Amerikaner gewarnt. Mortimer ist ebenfalls hinaufgegangen. Sie wollten zweifellos zu dritt ausgehen, denn Mrs. Mortimer kam wenig später, für den Abend in Schale geworfen, in die Halle herunter. Zehn Minuten darauf stellte man fest, daß die beiden Männer verschwunden waren.
Der Lette hatte seinen Smoking gegen einen weniger auffälligen Anzug eingetauscht. Er hat sich eine Mütze aufgesetzt, und der Portier hat ihn für jemanden vom Küchenpersonal halten müssen.
Levingston ist, wie er war, im Abendanzug fortgegangen.«
Torrence sagte nichts. Und während des darauffolgenden langen Schweigens hörte man deutlich das Tosen des Orkans, der die Fensterscheiben erzittern ließ, und den bullernden Ofen.
»Gepäck?« fragte Torrence schließlich.
»Ist durchsucht. Nichts! Kleider. Wäsche … Die ganze Ausrüstung eines Luxusreisenden. Aber nicht ein einziges Dokument. Die Mortimer schwört, daß ihr Mann ermordet worden ist.«
Irgendwo läutete eine Glocke. Maigret öffnete die Schreibtischschublade, in die er am Nachmittag die Pietr, den Letten, betreffenden Telegramme hineingeschoben hatte.
Dann schaute er auf die Karte. Sein Finger zeichnete eine Linie von Krakau über Bremen, Amsterdam, Brüssel nach Paris. In der Gegend von Saint-Quentin ein Haltepunkt: ein Toter. In Paris unvermittelter Abbruch der
Weitere Kostenlose Bücher