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Maigret und Pietr der Lette

Maigret und Pietr der Lette

Titel: Maigret und Pietr der Lette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Kommissar ebenso beredt wie ein Foto. In groben Zügen vermittelte es als ersten Eindruck: Der Mann war klein, mager, relativ jung, hatte sehr helles Haar, dünne blonde Brauen, grünliche Augen und einen langen Hals.
    Außerdem kannte Maigret die Ohren bis ins geringste Detail, was ihm erlaubte, Pietr, den Letten, selbst wenn er geschminkt war, in einer größeren Menschenmenge mit Sicherheit ausfindig zu machen.
    Er nahm seine Jacke vom Haken, zog sie an, hüllte sich in seinen dicken schwarzen Mantel und setzte die Melone auf.
    Er warf einen letzten Blick auf den Ofen, der jeden Augenblick vor Hitze zu platzen schien.
    Am Ende eines langen Flurs, auf dem Treppenabsatz, der als Vorzimmer diente, mahnte er Jean:
    »Vergiß mein Feuer nicht, hörst du!«
    Auf der Treppe wurde er vom Wind überrascht, der sich hier verfangen hatte, und er mußte sich in eine schützende Ecke stellen, um seine Pfeife anzünden zu können.
     
    Trotz der monumentalen Glasfenster fegten Böen über die Bahnsteige des Nordbahnhofs. Mehrere Scheiben waren aus dem Dach herausgebrochen und zwischen den Gleisen zersplittert. Die Stromversorgung funktionierte nicht recht. Die Leute vergruben sich in ihre Mäntel.
    Vor einem Schalter lasen Reisende die wenig beruhigende Nachricht:
    »Sturm auf dem Ärmelkanal.«
    Und eine Frau, deren Sohn nach Folkestone fuhr, zeigte ein bestürztes Gesicht, gerötete Augen. Bis zur letzten Sekunde erteilte sie ihm Ratschläge. Verlegen mußte er versprechen, keinen Augenblick an Deck des Schiffes zu bleiben.
    Maigret stand am Gleis 11, wo die Menge auf den Nordexpreß wartete. Alle großen Hotels und natürlich auch das Reisebüro Cook waren vertreten.
    Er rührte sich nicht. Andere wurden nervös. Eine junge Frau, die in einen Nerz gemummt war, im Gegensatz dazu aber hauchdünne Seidenstrümpfe trug, ging auf und ab und hämmerte dabei mit ihren Absätzen auf das Pflaster.
    Er blieb ruhig stehen, eine imposante Gestalt mit eindrucksvollen Schultern, die einen breiten Schatten warfen. Er wurde angerempelt, schwankte jedoch so wenig wie eine Mauer.
    In der Ferne tauchten die gelben Lichter des Zuges auf. Dann hörte man das Donnern der Räder, die Rufe der Gepäckträger, die eiligen Schritte der Reisenden, die dem Ausgang zustrebten.
    Etwa zweihundert Menschen ließ Maigret vorüberziehen, ehe sein Blick in dem Strom auf einen Mann fiel, dessen grüner, großkarierter Reisemantel in Schnitt und Farbe eindeutig nordisch geprägt war.
    Der Herr hatte es nicht eilig. Drei Gepäckträger folgten ihm. Der Hausdiener eines großen Hotels an den Champs-Elysées bahnte ihm ehrerbietig den Weg.
    »Vermutlich 32 Jahre alt, 1,69 groß … Nasenrücken …«
    Maigret bewegte sich nicht. Er betrachtete das Ohr. Das genügte ihm.
    Der grüngekleidete Mann ging nah an ihm vorbei. Einer der Gepäckträger stieß den Kommissar mit einem seiner Koffer an.
    Im selben Augenblick rannte ein Bahnbeamter los und rief seinem Kollegen schnell etwas zu, der am Ende des Bahnsteigs in der Nähe der Sperre stand.
    Die Sperre wurde geschlossen. Protestrufe ertönten.
    Der Herr im Reisemantel befand sich bereits am Ausgang.
    Der Kommissar rauchte in kleinen, hastigen Zügen. Er trat auf den Beamten zu, der den Bahnsteig abgesperrt hatte.
    »Polizei! Was soll das?«
    »Ein Verbrechen … Man hat es gerade entdeckt.«
    »Wagen 5?«
    »Ich glaube.«
    Auf dem Bahnhof ging es zu wie immer. Nur an Gleis 11 bot sich ein ungewöhnlicher Anblick. Etwa fünfzig Reisende wurden am Verlassen des Bahnsteigs gehindert. Sie begannen ungeduldig zu werden.
    »Lassen Sie sie durch«, sagte Maigret.
    »Aber …«
    »Lassen Sie sie durch!«
    Er schaute zu, wie sich der letzte Teil der Menge verlief.
    Der Lautsprecher kündigte die Abfahrt eines Vorortzuges an. Irgendwo rannte jemand. Vor einem der Wagen des Nordexpreß warteten ein paar Leute: drei Männer in der Uniform der Eisenbahngesellschaft.
     
    Als erster kam, wichtigtuerisch, aber nervös, der Bahnhofsvorsteher angelaufen. Dann rollte eine Bahre in die Halle, drang durch die Ansammlungen der Wartenden, die ihr, unangenehm berührt, mit den Augen folgten. Vor allem die Abreisenden wirkten beunruhigt.
    Die Pfeife im Mund, ging Maigret mit schweren Schritten den Zug entlang. Wagen 1, Wagen 2 … Er erreichte den fünften Wagen. Dort standen ein paar Leute vor einer der Türen. Die Bahre blieb stehen. Der Bahnhofsvorsteher hörte den drei Männern zu, die alle gleichzeitig sprachen.
    »Polizei! Wo ist

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