Maigret zögert
wurde.
Er kannte einige jener alten Routiniers der Psychiatrie, die von den Richtern gern als Experten hinzugezogen werden, weil sie sich nicht in Spitzfindigkeiten verlieren.
Als mildernde Umstände kamen nur in Frage: verminderte Zurechnungsfähigkeit oder Geisteskrankheit oder, weil im nächsten Artikel des Strafgesetzbuchs davon die Rede ist, die Epilepsie.
Aber wie kann man beweisen, dass ein Mensch in dem Augenblick, da er einen anderen tötet, exakt im Augenblick der Mordtat, im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist? Wie gar behaupten, dass er fähig war, seinem Impuls zu widerstehen?
Der Artikel 64, ja... Maigret hatte ihn oft diskutiert, insbesondere mit seinem alten Freund Pardon. Man diskutierte ihn bei fast jedem Kongress der Internationalen Gesellschaft für Kriminologie, und es gibt umfangreiche Werke zu diesem Thema, eben jene Werke, die einen großen Teil von Parendons Bibliothek füllten.
»Nun? Schmeckt das Essen?«
Der leutselige Wirt füllte ihm sein Glas mit einem Beaujolais nach, der wohl noch etwas jung, dafür aber sehr fruchtig schmeckte.
»Ihre Frau hat das Kochen nicht verlernt.«
»Sie wird sich freuen, wenn Sie ihr das selbst sagen, bevor Sie gehen.«
Die Wohnung passte genau zu einem Mann wie Gassin de Beaulieu, der, an Hermelin gewöhnt, Kommandeur der Ehrenlegion war, der weder am Gesetz noch an der Justiz, noch an sich selbst je gezweifelt hatte.
Um Maigret herum saßen Dicke und Dünne, Männer von dreißig und Männer von fünfzig Jahren. Fast alle aßen allein, starrten ins Leere oder waren in ihre Zeitung vertieft, und alle hatten diese eigentümliche Patina, die man durch ein bescheidenes und einförmiges Leben bekommt.
Man neigt dazu, sich die Menschen so vorzustellen, wie man sie sich wünscht. Aber der eine hatte eine schiefe Nase oder ein fliehendes Kinn, der andere eine zu niedrige Schulter, während sein Nachbar ein Dickwanst war. Die Hälfte der Gäste hatte eine Glatze, und noch mehr trugen eine Brille.
Warum dachte Maigret daran? Einfach so. Weil Parendon in seinem großen Arbeitszimmer wie ein Gnom oder, wie manch anderer grausamer gesagt hätte, wie ein Affe wirkte.
Madame Parendon dagegen... Er hatte sie nur ganz kurz gesehen. Sie war flüchtig in Erscheinung getreten, wie um ihm eine Probe ihrer brillanten Persönlichkeit abzulegen. Wie war dieses Paar zusammengekommen? Waren sie sich zufällig begegnet, oder hatte die Familie dabei ihre Hände im Spiel gehabt?
Zusammen hatten sie einen Sohn, Gus, der sich zusammen mit dem Sohn des Konditors in seinem Zimmer mit Stereomusik und Elektronik beschäftigte. Er war größer und (zum Glück) kräftiger als sein Vater und Mademoiselle Vague zufolge ein ausgeglichener Junge.
Und Gus’ Schwester, Bambi, die Archäologie studierte. Hatte sie wirklich vor, eines Tages in den Wüsten im Nahen Osten zu graben? Oder war ihr Studium nichts als ein Alibi?
Mademoiselle Vague setzte sich leidenschaftlich für ihren Chef ein, aber wenn sie sich liebten, konnte es nur auf die Schnelle geschehen.
Warum verabredeten sie sich nicht woanders, verflucht noch mal! Hatten sie beide solche Angst vor Madame Parendon? Oder veranlasste sie ein Schuldgefühl, an dem heimlichen improvisierenden Charakter ihrer Beziehungen festzuhalten?
Dann war da noch der ehemalige Legionär, der Hausdiener geworden war, gab es die Köchin und die Putzfrau, die einander wegen ungleicher Arbeitszeit und Entlohnung spinnefeind waren. Dann ein Zimmermädchen mit dem Vornamen Lise, das Maigret nicht kannte und über das er kaum etwas gehört hatte.
Es gab Rene Tortu, der ein einziges Mal mit der Sekretärin geschlafen hatte und jetzt schon seit längerer Zeit mit einer anderen verlobt war, und schließlich den Schweizer Julien Baud, der Paris zunächst als Bürodiener kennenlernen wollte, ehe er sich ins Theaterleben stürzte.
Auf welcher Seite standen sie, die einen und die anderen? Auf der Seite der Gassins? Auf der Seite der Parendons?
Einer aus diesem Kreis wollte einen anderen umbringen.
Und zu alledem amtierte unten ein ehemaliger Inspektor der Sûreté Nationale als Pförtner.
Gegenüber der Park des Staatspräsidenten, und hinter den Bäumen, die vorzeitig zu grünen begannen, die berühmte Treppe, auf der man ihn fotografierte, wenn er prominenten Gästen die Hände drückte.
Musste einem das Ganze nicht irgendwie irrational Vorkommen? Das Bistro, in dem Maigret saß, wirkte realer, solider. Es war das tägliche Leben. Kleine Leute,
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