Maigret zögert
bemerkte ihre große Begeisterung. Mit einem Mal sah sie ihn freundschaftlich an, als hätte er sie soeben für sich gewonnen. Er hatte begriffen, dass sie nicht mit Parendon schlief, weil er ihr Chef war, sondern weil sie für ihn eine echte Leidenschaft fühlte.
»Ich wette, Sie haben keinen Freund.«
»Stimmt. Ich will keinen haben.«
»Leiden Sie nicht darunter, alleine zu leben?«
»Im Gegenteil. Jemanden dauernd um mich zu haben, wäre mir unerträglich. Und noch unerträglicher wäre mir, mit jemandem mein Bett zu teilen.«
»Keine flüchtigen Liebschaften?«
Immer wieder dieses kurze Schwanken zwischen Wahrheit und Lüge.
»Ab und zu. Ziemlich selten.«
Und eigenartig stolz, als äußere sie ein Glaubensbekenntnis, fügte sie hinzu:
»Aber nie bei mir.«
»Wie stehen Gus und sein Vater zueinander? Ich hatte Sie das vorhin schon gefragt, wir sind dann aber vom Thema abgekommen.«
»Gus bewundert ihn. Aber er bewundert ihn aus der Ferne, ohne es ihm zu zeigen, auf eine fast demütige Weise. Sehen Sie, um sie zu verstehen, müssten Sie die ganze Familie kennen, und Ihre Untersuchung würde damit noch nicht enden.
Sie wissen, dass die Wohnung Monsieur Gassin de Beaulieu gehörte und noch voller Erinnerungen an ihn steckt. Der Ex-Präsident ist seit drei Jahren gehbehindert und lebt jetzt nur noch in seinem Herrenhaus in der Vendée. Aber früher kam er manchmal für zwei oder drei Wochen her, bewohnte dann sein eigenes Zimmer, und sowie er hier war, war er wieder der Herr des Hauses.«
»Sie kennen ihn also?«
»Sehr gut. Er hat mir seine ganze Post diktiert.«
»Was für ein Mensch ist er? Seinem Porträt nach...«
»Das in Monsieur Parendons Büro? Wenn Sie das Porträt gesehen haben, dann haben Sie ihn gesehen. Er ist das, was man einen unbescholtenen und weisen Richter nennt. Verstehen Sie, was ich damit sagen will? Eine Persönlichkeit, die über sich selbst hinausgewachsen ist und durchs Leben wandert, als sei sie von ihrem Sockel herabgestiegen. Wenn er hier war, musste es mucksmäuschenstill sein in der Wohnung. Man ging auf Zehenspitzen. Man flüsterte nur. Für die Kinder, die damals noch klein waren, war es schrecklich.
Dagegen ist Monsieur Parendons Vater, der Chirurg...«
»Kommt er noch zu Besuch?«
»Selten. Das wollte ich Ihnen gerade erzählen. Sie kennen seine Legende. Jeder kennt sie. Ein Bauernsohn aus dem Berry. Er benahm sich auch stets wie ein Bauer, drückte sich, selbst in seinen Vorlesungen, gerne in einer ungehobelten, bilderreichen Sprache aus.
Er war noch bis vor wenigen Jahren ein echter Naturbursche. Da er ganz in der Nähe wohnt, in der Rue de Miromesnil, kam er oft zu Besuch, und die Kinder himmelten ihn an.«
»Und das hat nicht allen gepasst?«
»Besonders Madame Parendon nicht. Ich kann mit Bestimmtheit sagen, dass es zwischen den beiden keine Sympathien gegeben hat. Genaues weiß ich aber nicht. Die Hausangestellten ließen durchblicken, dass es eine heftige Szene gegeben hat. Jedenfalls kommt er nicht mehr her, und sein Sohn geht ihn nun alle zwei oder drei Tage besuchen.«
»Kurz, die Gassins haben die Parendons besiegt.«
»Gründlicher, als Sie glauben mögen...«
Der Qualm von Maigrets Pfeife und Mademoiselle Vagues Zigaretten füllte den Raum allmählich mit einem blauen Dunst. Das Mädchen ging zum Fenster und zog es weiter auf, um frische Luft hereinzulassen.
Amüsiert fuhr sie fort:
»Die Kinder haben ja die Tanten, die Onkels, die Vettern, die Cousinen. Monsieur Gassin de Beaulieu hatte vier Töchter, und die drei anderen leben ebenfalls in Paris. Sie haben Kinder im Alter von zehn bis zweiundzwanzig Jahren... Ach ja, eines der Mädchen hat letztes Frühjahr einen Offizier geheiratet, der sein Büro im Marineministerium hat...
So viel zu dem Clan der Gassins de Beaulieu. Wenn Sie wollen, stelle ich Ihnen eine Liste mit den Namen der Ehemänner zusammen.«
»Ich glaube nicht, dass das zum jetzigen Zeitpunkt nötig ist. Kommen sie oft her?«
»Bald die eine, bald die andere. Obwohl sie sich, wie es heißt, gut verheiratet haben, betrachten sie dieses Haus weiterhin als ihr Zuhause...«
»Wohingegen...«
»Ich sehe, Sie wissen schon, worauf ich hinauswill. Monsieur Parendons Bruder ist Kinderneurologe. Er ist mit einer ehemaligen Schauspielerin verheiratet, die sich übrigens eine sprühende Jugend bewahrt hat...«
»Hat er Ähnlichkeit mit...«
Maigret war die Frage ein bisschen peinlich, aber sie verstand es schon.
»Nein. Er ist
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