Maigret zögert
intelligent, spontan und doch besonnen.«
Das schien Parendon zu freuen, und er lobte sie:
»Für mich ist sie sehr wertvoll.«
Während er sich wieder in seine Akten vertiefte, kehrte Maigret zu Mademoiselle Vague in ihr Büro zurück. Sie gab nicht vor zu arbeiten, sondern wartete ganz offensichtlich auf ihn.
»Eine Frage, die Ihnen lächerlich Vorkommen mag, Mademoiselle. Hat der junge Parendon...«
»Jedermann nennt ihn Gus!«
»Also gut! Hat Gus Ihnen je den Hof gemacht?«
»Er ist fünfzehn!«
»Ich weiß. Das ist genau das Alter, wo man auf gewisse Dinge neugierig ist, wo gewisse Gefühle in einem aufwallen.«
Sie dachte nach. Wie Parendon nahm sie sich Zeit zum Überlegen, ehe sie antwortete, als hätte er sie gelehrt, genau zu sein.
»Nein«, sagte sie schließlich. »Als ich ihn kennenlernte, war er ein kleiner Junge, der bei mir um Briefmarken für seine Sammlung bettelte und mir eine unglaubliche Menge von Bleistiften und Klebeband stibitzte. Manchmal bat er mich, ihm bei seinen Hausaufgaben zu helfen. Er saß da, wo Sie jetzt sitzen, und schaute mir mit ernstem Gesicht bei der Arbeit zu.«
»Und heute?«
»Er ist einen halben Kopf größer als ich. Er rasiert sich seit einem Jahr. Wenn er mir mal was klaut, dann sind es Zigaretten, wenn er vergessen hat, sich welche zu kaufen.«
Mit diesen Worten zündete sie sich eine Zigarette an, während Maigret gemächlich seine Pfeife stopfte.
»Seine Besuche sind nicht häufiger geworden?«
»Im Gegenteil. Ich glaube, ich habe Ihnen gesagt, dass er, abgesehen von den Mahlzeiten, sein eigenes, von der Familie getrenntes Leben führt. Außerdem weigert er sich mitzuessen, wenn Gäste da sind, und isst dann lieber in der Küche.«
»Versteht er sich gut mit dem Personal?«
»Er behandelt alle gleich. Selbst wenn er spät dran ist, lehnt er es ab, sich vom Chauffeur zur Schule fahren zu lassen, aus Furcht, von seinen Mitschülern in der Limousine gesehen zu werden.«
»Kurz, er schämt sich, in einem Haus wie diesem zu wohnen?«
»Ja, so ungefähr.«
»Versteht er sich jetzt besser mit seiner Schwester?«
»Vergessen Sie nicht, dass ich während der Mahlzeiten nicht hier bin und dass ich die beiden selten zusammen sehe. Meiner Meinung nach hält er sie für ein seltsames Wesen, dessen Mechanismus er zu verstehen versucht, ein wenig so, als studierte er ein Insekt.«
»Und seine Mutter?«
»Sie ist ihm ein bisschen zu lebhaft... Ich meine, sie ist immer in Bewegung, spricht stets über eine Menge Leute...«
»Ich verstehe. Die Tochter? Paulette, wenn ich mich recht erinnere?«
»Hier sagt man Bambi. Vergessen Sie nicht, dass jedes Kind seinen Kosenamen hat. Gus und Bambi. Ich weiß nicht, wie sie mich nennen, wenn sie unter sich sind. Sicher irgendetwas Lustiges...«
»Wie versteht Bambi sich mit ihrer Mutter?« »Schlecht.«
»Streiten sie sich?«
»Nicht mal das. Sie sprechen kaum miteinander.«
»Wer hat wen zuerst gehasst?«
»Bambi ihre Mutter. Sie werden sie ja sehen. So jung sie auch ist, sie hat sich über die Menschen in ihrer Umgebung ihr Urteil gebildet, und man sieht an ihrem Blick, dass sie grausam urteilt.«
»Ungerecht?«
»Nicht immer.«
»Versteht sie sich gut mit Ihnen?«
»Sie akzeptiert mich.«
»Kommt sie ab und zu in Ihr Büro?«
»Wenn sie mich braucht, um einen Aufsatz abzutippen oder ein Dokument zu fotokopieren.«
»Spricht sie mit Ihnen nie über ihre Freundinnen und Freunde?«
»Nie.«
»Haben Sie den Eindruck, dass sie über Ihre Beziehungen zu ihrem Vater Bescheid weiß?«
»Darüber habe ich schon öfter nachgedacht. Ich weiß es nicht. Jeder kann uns überrascht haben, ohne dass wir es bemerkten.«
»Liebt sie ihren Vater?«
»Sie hat ihn unter ihre Fittiche genommen... Sie muss ihn für das Opfer ihrer Mutter halten, und sie wirft ihr deshalb vor, sich zu wichtig zu nehmen.«
»Kurz, Monsieur Parendon spielt keine bestimmende Rolle in der Familie?«
»Keine deutliche Rolle, nein.«
»Hat er es je versucht?«
»Vielleicht früher, vor meiner Zeit. Aber er muss erkannt haben, dass es aussichtslos war, und...« »... und hat sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen.«
Sie lachte.
»Nicht so sehr, wie Sie glauben. Er ist genauso auf dem laufenden über alles, was hier vor sich geht. Er fragt nicht so viel wie Madame Parendon. Er begnügt sich damit, zuzuhören, zu beobachten, seine Schlüsse zu ziehen. Er ist ein außergewöhnlich intelligenter Mann.«
»Den Eindruck habe ich auch.«
Er
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