Maigret zögert
gebrochen.
»Sie lieben ihn sehr, nicht wahr?«
»Wir gehören zusammen...«
Das Wort frappierte Maigret. Sie hatten doch noch ihren Vater, und Germain Parendon war auch verheiratet. Trotzdem sagte er: Wir gehören zusammen.
Als ob es für den einen nur den anderen auf der Welt gäbe. War die Ehe des Bruders vielleicht auch unglücklich?
Parendon straffte sich, schaute sicher auf die Uhr.
»Nun, hoffen wir, dass nichts passiert. Guten Abend, Monsieur Maigret.«
»Guten Abend, Monsieur Parendon.«
Der Kommissar hatte telefoniert, um sich zu beruhigen. Aber nun war genau das Gegenteil eingetreten. Das Gespräch mit dem Bruder des Anwalts hatte seine Sorge nur noch vergrößert.
Das einzige, was passieren könnte, ist, dass er aus einer depressiven Stimmung heraus ...
Und wenn es genau das war, was sich anbahnte? Wenn Parendon selbst die anonymen Briefe geschrieben hatte? Um sich an der Tat zu hindern? Um eine Art Schranke zu errichten zwischen dem Impuls und der Durchführung der Tat, die ihn lockte?
Maigret vergaß darüber ganz Janvier, der sich ans Fenster gesetzt hatte.
»Hast du gehört?«
»Was Sie gesagt haben, ja.«
»Er mag seine Schwägerin nicht. Er ist überzeugt, dass sein Bruder nie jemanden töten würde, aber er ist sich nicht so sicher, dass er nicht eines Tages versucht sein könnte, sich das Leben zu nehmen.«
Die Sonne war verschwunden, und der Welt schien plötzlich etwas zu fehlen. Es war noch nicht dunkel, und man brauchte noch kein Licht zu machen. Der Kommissar tat es dennoch, als ob er damit Gespenster verjagen wollte.
»Morgen wirst du das Haus kennenlernen, und du wirst alles besser verstehen. Nichts hindert dich daran zu klingeln, Ferdinand zu sagen, wer du bist, und dir die Wohnung und die Büros anzusehen. Sie wissen Bescheid. Sie rechnen damit.
Das einzige Risiko, das du dabei eingehst, ist, plötzlich Madame Parendon vor dir auftauchen zu sehen, gerade dann, wenn du es am wenigsten erwartest. Man könnte glauben, sie schwebe dahin, ohne ein Lüftchen zu bewegen. Nun, sie wird dich ansehen, und du wirst dich irgendwie schuldig fühlen. Das ist der Eindruck, den sie bei allen hinterlässt.«
Maigret rief nach dem Bürojungen, um ihm die Unterzeichneten Dokumente und die Ausgangspost zu geben.
»Nichts Neues? Niemand da für mich?«
»Niemand, Herr Hauptkommissar.«
Maigret erwartete keine Besucher. Dennoch wunderte er sich, dass weder Gus noch seine Schwester sich bisher hatten sehen lassen. Sie mussten wie die übrigen im Haus auf dem laufenden sein über das, was seit dem gestrigen Tag vor sich ging. Bestimmt hatten sie von Maigrets Verhören erfahren. Vielleicht hatten sie ihn sogar um eine Ecke des Flurs biegen sehen?
Wenn Maigret mit fünfzehn Jahren hätte sagen hören, dass...
Er wäre ganz bestimmt zum Kommissar gerannt und hätte ihn neugierig ausgefragt, auch auf die Gefahr hin, wieder weggeschickt zu werden.
Er wurde sich bewusst, dass die Zeit nicht stehengeblieben war, dass die Welt sich verändert hatte.
»Komm, wir trinken ein Glas in der >Brasserie Dauphine< und gehen dann heim«, forderte er Janvier auf.
Das taten sie. Maigret ging noch ein gutes Stück zu Fuß, bevor er ein Taxi nahm. Und als seine Frau, die seine Schritte gehört hatte, die Tür öffnete, war sein Gesicht nicht mehr allzu sorgenvoll.
»Was gibt es zu essen?«
»Das aufgewärmte Mittagessen.«
»Und was gab es zum Mittagessen?«
»Bohnen mit Speck.«
Sie lächelten beide, aber sie hatte schon erraten, dass ihm etwas auf der Seele lag.
»Quäle dich nicht, Maigret.«
Er hatte ihr nichts von der Sache erzählt, die ihn so beschäftigte. War es im Grunde nicht immer dasselbe?
»Du bist nicht verantwortlich...«
Und gleich darauf fügte sie hinzu:
»In dieser Jahreszeit kühlt es immer sehr schnell ab. Ich will lieber die Fenster schließen.«
5
Sein erster Kontakt mit dem Leben war wie an jedem Morgen der Kaffeeduft, dann die Hand seiner Frau, die seine Schulter berührte, und schließlich der Anblick von Madame Maigret, die bereits frisch und munter in einem geblümten Hauskleid vor ihm stand und ihm die Kaffeetasse hinhielt.
Er rieb sich die Augen und fragte recht einfältig:
»War kein Anruf?«
Wenn das Telefon geläutet hätte, wäre er davon ebenso wach geworden wie sie. Die Vorhänge waren aufgezogen. Der Frühling hielt sich gut, obwohl er zu früh begonnen hatte. Die Sonne schien, und die Geräusche der Straße hallten deutlich herauf.
Er stieß einen
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