Maigret zögert
der Sprache heraus.
»Ich will Ihnen so kurz wie möglich die Situation schildern. Gestern früh erhielt ich einen anonymen Brief, in dem mir mitgeteilt wurde, dass wahrscheinlich ein Verbrechen stattfinden wird...«
»Bei Emile?« Die Stimme klang belustigt.
»Nein. Es würde zu weit führen, Ihnen zu erzählen, durch welche Umstände wir auf die Wohnung Ihres Bruders gestoßen sind. Jedenfalls stammte dieser Brief wie auch der folgende aus seinem Haus, beide waren auf seinem Briefpapier geschrieben, wobei man den Briefkopf vorsichtigerweise abgetrennt hatte.«
»Ich nehme an, mein Bruder konnte Sie beruhigen? Ein Scherz von Gus, was?«
»Soviel ich weiß, macht Ihr Neffe keine solchen Scherze.«
»Das stimmt... Bambi übrigens auch nicht. Also, ich weiß auch nicht! Vielleicht der junge Schweizer, den er als Bürojungen engagiert hat? Oder ein Zimmermädchen?«
»Ich habe eben eine dritte Nachricht bekommen, diesmal per Rohrpost. Es heißt darin, dass die Tat unmittelbar bevorsteht.«
Mit veränderter Stimme fragte der Arzt:
»Glauben Sie es?« »Ich kenne das Haus erst seit gestern...«
»Was sagt Emile dazu? Sicher zuckt er nur die Schultern darüber?«
»Er nimmt die Sache keineswegs so leicht, das ist es ja. Im Gegenteil, ich habe den Eindruck, dass er an eine reelle Gefahr glaubt.«
»Gefahr für wen?«
»Vielleicht für ihn.«
»Wer könnte auf den Gedanken kommen, ihm etwas anzutun? Und warum? Wenn man von seinem leidenschaftlichen Kampf um die Revision des Artikels 64 absieht, ist er der friedliebendste und freundlichste Mensch auf Erden.«
»Er hat mich sehr beeindruckt. Sie sprachen gerade von Leidenschaft, Doktor... Würden Sie als Neurologe so weit gehen, von einer Manie zu sprechen?«
»Im medizinischen Sinn des Wortes bestimmt nicht.«
Der Ton war kühler geworden, denn er hatte Maigrets Hintergedanken erraten.
»Kurz, Sie fragen mich, ob ich meinen Bruder geistig für gesund halte?«
»So weit bin ich nicht gegangen.«
»Lassen Sie das Haus überwachen?«
»Ich habe bereits einen meiner Inspektoren hingeschickt.«
»Hat mein Bruder in letzter Zeit mit mehr oder weniger zwielichtigen Leuten zu tun gehabt? Ist er vielleicht mit großen Gegnern in Widerstreit geraten?«
»Er hat mir nichts von seinen Geschäften erzählt, aber ich weiß, dass noch heute Nachmittag ein griechischer und ein holländischer Reeder bei ihm waren.«
»Sie kommen sogar aus Japan zu ihm... Bleibt uns nichts, als zu hoffen, dass es wirklich ein Scherz ist. Sie haben keine weiteren Fragen an mich?«
Während Maigret sich die nächste Frage erst überlegen musste, schaute der Neurologe am anderen Ende der Leitung gewiss auf die Promenade des Anglais und das blaue Wasser der Baie des Anges hinunter.
»Halten Sie Ihre Schwägerin für einen ausgeglichenen Menschen?«
»Unter uns - und ich würde das im Zeugenstand natürlich nicht wiederholen wenn alle Frauen so wären wie sie, wäre ich Junggeselle geblieben.«
»Ich habe ausgeglichen gesagt.«
»Ich habe schon richtig verstanden. Sagen wir, sie ist etwas exaltiert. Aber um gerecht zu sein, muss man zugeben, dass sie selbst am meisten darunter leidet.«
»Ist sie eine Frau, die fixe Ideen hat?«
»Gewiss, vorausgesetzt, dass diese Ideen von präzisen Tatsachen ausgehen und plausibel sind. Ich kann Ihnen versichern, wenn sie Sie belogen hat, dann war ihre Lüge so perfekt, dass Sie es nicht gemerkt haben.«
»Würden Sie von Hysterie sprechen?«
Ein ziemlich langes Schweigen folgte.
»So weit würde ich nicht gehen, obwohl ich sie schon in Stimmungen erlebt habe, die man wohl als hysterisch bezeichnen kann. Sehen Sie, sie ist zwar hypernervös, aber sie findet, ich weiß nicht durch welches Wunder, immer die Kraft, sich zu beherrschen.«
»Sie wissen, dass sie eine Waffe in ihrem Zimmer hat?«
»Sie hat es mir eines Abends erzählt. Sie hat sie mir sogar gezeigt. Es ist eher ein Spielzeug.«
»Ein Spielzeug, das töten kann. Würden Sie es ihr lassen?« »Wissen Sie, wenn sie es sich in den Kopf setzen würde, jemanden zu töten, dann gelänge ihr das auf alle Fälle, mit und ohne Schusswaffe.«
»Ihr Bruder hat ebenfalls einen Revolver.«
»Ich weiß.«
»Sie würden dasselbe sagen?«
»Nein. Nicht nur als Mensch, sondern auch als Arzt bin ich überzeugt, dass mein Bruder nie töten würde. Das einzige, was passieren könnte, ist, dass er aus einer depressiven Stimmung heraus seinem Leben eines Abends ein Ende macht.«
Die Stimme klang nun
Weitere Kostenlose Bücher