Maigret zögert
mein Büro.«
Lucas, der von den Briefen wusste, fragte:
»Hat der Mord stattgefunden?«
»Ja.«
»Parendon?«
»Die Sekretärin. Ruf Moers an, er soll mit seinen Leuten hin. Ich telefoniere mit der Staatsanwaltschaft.«
Es war jedesmal dasselbe Theater. Anstatt in Ruhe arbeiten zu können, würde er gut eine Stunde damit verbringen müssen, dem Vertreter der Staatsanwaltschaft und dem Untersuchungsrichter, der ihm zugewiesen würde, Erklärungen abzugeben.
»Gehen wir, Kinder!«
Er war niedergeschlagen, als ob es jemanden aus seiner eigenen Familie getroffen hätte. Dass Mademoiselle Vague das Opfer sein würde, hätte er am allerwenigsten vermutet.
Sie war ihm sympathisch gewesen. Er hatte die unverblümte und doch schlichte Art gemocht, in der sie über ihre Beziehungen zu ihrem Chef gesprochen hatte. Er hatte gespürt, dass sie im Grunde ihres Herzens trotz des Altersunterschieds mit leidenschaftlicher Treue zu ihm hielt; eine der ehrlichsten Formen der Liebe vielleicht.
Warum also hatte man sie getötet?
Er zwängte sich neben Lucas, der sich hinters Steuer setzte, in den kleinen schwarzen Wagen, während der dicke Torrence hinten einstieg.
»Worum geht es?« fragte er, als sie losfuhren.
»Wirst es gleich sehen«, antwortete ihm Lucas, der merkte, in welcher Verfassung Maigret sich befand.
Dieser sah weder die Straßen noch die Passanten, auch nicht die Bäume, die täglich grüner wurden, oder die Autobusse, die gefährlich nahe an ihnen vorbeifuhren. Er war in Gedanken schon dort. Er stellte sich das kleine Büro von Mademoiselle Vague vor, wo er gestern um diese Zeit am Fenster gesessen hatte. Sie hatte ihm gerade ins Gesicht gesehen, als wollte sie ihn mit der Ehrlichkeit ihres Blickes überzeugen. Und wenn sie nach einer Frage gezögert hatte, so nur, weil sie die richtigen Worte suchte.
Es stand schon ein Wagen vor der Haustür, der dem Kommissar des Reviers gehörte, den Janvier hatte benachrichtigen müssen. Denn, was immer auch passierte, der Amtsweg musste eingehalten werden.
Lamure stand mit düsterer Miene unter der Tür seiner luxuriösen Loge.
»Wer hätte gedacht...« begann er.
Aber Maigret ging ohne eine Antwort an ihm vorbei und stieg, da der Fahrstuhl oben war, die Treppe hinauf. Janvier erwartete ihn am Treppenabsatz. Er sagte nichts. Auch er erriet, wie seinem Chef zumute war. Maigret merkte gar nicht, dass Ferdinand, als wäre nichts geschehen, auf seinem Posten stand, um ihm den Hut abzunehmen.
Er ging durch den Flur, vorbei an der Tür von Parendons Arbeitszimmer bis zu Mademoiselle Vagues Büro, dessen Tür offenstand.
Zuerst sah er nur zwei Männer: den Kommissar des Reviers, Lambilliote, dem er schon oft begegnet war, und einen von dessen Mitarbeitern.
Sein Blick glitt über den Fußboden, hin zu dem Louis-XIII-Tisch, zum Schreibtisch.
Sie trug ein mandelgrünes Frühlingskleid, das sie in diesem Jahr bestimmt zum ersten Mal angezogen hatte, denn die letzten beiden Tage hatte er sie in einem marineblauen Rock und einer weißen Bluse gesehen, eine Art Uniform, hatte er gedacht.
Nach der Tat musste sie von ihrem Stuhl geglitten sein, und ihr Körper hatte sich in einer seltsamen Haltung gekrümmt. Sie lag mit durchschnittener Kehle da und hatte eine Menge Blut verloren, das jetzt vielleicht noch warm war.
Es dauerte eine gewisse Zeit, bis er sich bewusst wurde, dass Lambilliote ihm die Hand schüttelte.
»Kannten Sie sie?«
Er blickte ihn an, verblüfft, Maigret so erschüttert vor einer Leiche zu sehen.
»Ich kannte sie, ja.«
Seine Stimme war heiser.
Dann stürzte er in das Büro am Ende des Flurs, wo er einen Julien Baud mit roten Augen vor sich sah, dessen Atem nach Alkohol roch. Auf dem Tisch stand eine Flasche Cognac. Tortu, der in seiner Ecke saß, presste seine Stirn in beide Hände.
»Hast du sie gefunden?«
Das Du kam ihm ganz natürlich über die Lippen, denn der große Schweizer wirkte plötzlich wie ein kleiner Junge.
»Ja, Monsieur.«
»Hattest du etwas gehört? Hat sie geschrien? Hat sie gestöhnt?«
»Nicht einmal...«
Das Sprechen fiel ihm schwer. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt, und Tränen kullerten aus seinen blauen Augen.
»Entschuldigen Sie... Es ist das erste Mal...«
Es sah fast so aus, als hätte er auf diesen Augenblick gewartet, um losschluchzen zu können, und er zog ein Taschentuch aus seiner Tasche.
»Ich... Einen Moment... Verzeihung...«
Er weinte hemmungslos und wirkte, so mitten im Zimmer stehend, noch größer
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