Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maigret zögert

Maigret zögert

Titel: Maigret zögert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
Vom Netzwerk:
Hand deutete wieder zum Büro der Sekretärin hin.
    »Es kam so völlig unerwartet!«
    Hätte Maigret sich sicherer gefühlt, wenn er all die psychiatrischen und psychologischen Werke gelesen hätte, die sich in dieser Bibliothek aneinanderreihten?
    Er konnte sich nicht erinnern, einen Menschen jemals so intensiv beobachtet zu haben, wie er es jetzt tat. Nicht die geringste Bewegung, kein Muskelzucken im Gesicht des kleinen Mannes entging ihm.
    »Hätten Sie an sie gedacht?«
    »Nein«, gestand der Kommissar.
    »An mich?«
    »An Sie oder an Ihre Frau.«
    »Wo ist sie?«
    »Sie schläft anscheinend noch, weiß wohl noch gar nicht...«
    Der Anwalt runzelte die Stirn, bemühte sich um äußerste Konzentration.
    »Sie hat ihr Zimmer nicht verlassen?«
    »Laut Ferdinand, nein.«
    »Das ist nicht Ferdinands Bereich.«
    »Ich weiß. Einer meiner Inspektoren ist sicher gerade dabei, Lise zu verhören.«
    Parendon begann unruhig zu werden, als ob ihm plötzlich ein neuer, quälender Gedanke gekommen wäre.
    »Nun, werden Sie mich festnehmen? Wenn meine Frau ihr Zimmer nicht verlassen hat...«
    War er also davon überzeugt, dass seine Frau die Mörderin war?
    »Sagen Sie mir, werden Sie mich verhaften?«
    »Es ist zu früh, um überhaupt irgendjemanden zu verhaften.«
    Er stand auf und nahm einen Schluck Armagnac, fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn.
    »Ich verstehe gar nichts mehr, Maigret...«
    Er fasste sich wieder.
    »Entschuldigen Sie mich, Monsieur Maigret. Hat ein Fremder die Wohnung betreten?«
    Er wurde wieder er selbst. Seine Augen bekamen wieder Leben.
    »Nein. Einer meiner Männer war die ganze Nacht im Haus, und ein anderer hat ihn gegen acht Uhr heute Morgen abgelöst.«
    »Man sollte die Briefe noch einmal lesen«, murmelte er.
    »Ich habe sie gestern am späten Nachmittag wieder und wieder gelesen.«
    »Irgendetwas in dieser ganzen Geschichte passt nicht zusammen. Es ist, als hätten die Ereignisse plötzlich eine völlig unerwartete Wendung genommen.«
    Er nahm wieder Platz, und Maigret dachte über seine Worte nach. Auch er hatte, als er vom Tod Mademoiselle Vagues erfuhr, das Gefühl gehabt, einem Irrtum erlegen zu sein.
    »Sie wissen, sie war mir sehr, sehr... ergeben.«
    »Mehr als das«, ergänzte der Kommissar.
    »Glauben Sie?«
    »Gestern sprach sie mit wahrer Leidenschaft von Ihnen.«
    Der kleine Mann sperrte ungläubig die Augen auf, als könne er es nicht fassen, dass er ein solches Gefühl in ihr erweckt hatte.
    »Ich hatte ein langes Gespräch mit ihr, während die beiden Reeder bei Ihnen waren.«
    »Ich weiß. Sie hat es mir erzählt. Was ist mit den Dokumenten geschehen?«
    »Julien Baud trug sie in der Hand, als er die Leiche entdeckte und dann wie von Sinnen in sein Büro gerannt ist. Die Papiere sind dabei ein wenig zerknittert worden.«
    »Sie sind sehr wichtig. Diese Leute dürfen durch das, was in meinem Haus passiert ist, nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.«
    »Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Monsieur Parendon?«
    »Ich warte auf diese Frage, seit Sie hier in diesem Zimmer sind. Es ist selbstverständlich Ihre Pflicht, sie zu stellen, und selbst wenn Sie mir nicht aufs Wort glauben... Nein, ich habe Mademoiselle Vague nicht getötet.
    Es gibt Worte, die ich nicht oft in meinem Leben gesagt, die ich fast aus meinem Vokabular gestrichen habe. Aber heute will ich eines aussprechen, weil kein anderes Wort mehr der Wahrheit entspricht, die ich soeben entdeckt habe. Ich habe sie geliebt, Monsieur Maigret.«
    Die Ruhe, mit der er das sagte, machte seine Worte nur noch eindrucksvoller. In leichterem Ton fuhr er dann fort:
    »Abgesehen von dem physischen Verlangen, glaubte ich für sie nicht mehr als eine gewisse Zuneigung zu empfinden... Ich schämte mich etwas, denn ich habe eine Tochter, die fast in ihrem Alter ist... Antoinette hatte...«
    Es war das erste Mal, dass Maigret Mademoiselle Vagues Vornamen hörte.
    »... sie hatte etwas... warten Sie... etwas Spontanes, das mich erfrischte. Spontaneität, sehen Sie, findet man in diesem Haus kaum. Sie brachte sie von draußen mit, wie ein Geschenk, so wie man frische Blumen mitbringt ...«
    »Wissen Sie, mit welcher Waffe das Verbrechen begangen wurde?«
    »Mit einem Messer, nehme ich an.«
    »Nein. Mit einer Art Radiermesser, das ich schon gestern auf dem Schreibtisch Ihrer Sekretärin bemerkte. Es fiel mir auf, weil es eine ungewöhnliche Form hat. Die Klinge ist lang und spitz.«
    »Es wurde uns wie alle unsere Büroartikel

Weitere Kostenlose Bücher