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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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Hände. Ich hing in der schmalen Ritze des Bullauges, fror erbärmlich. Sie bestellte Tee. Ich hätte sie doch gleich stechen sollen. Wo würde ich es tun? Wie würde ich es tun? Natürlich würde ich es tun.
    Blut wird fließen, Geißeln werden fließen.
    Sie würde schon sehen, wer als Nächste im Eissturm steht.
    Vor der Landung in Belém reckten die Passagiere ihre Köpfe am Fenster. Schalentiere, die nach Luft schnappten. Unter uns nur Wasser und Wald. Kleine Flüsse, Riesenströme, breite Arme, aus allen Richtungen floss es auf die Stadt zu. Im Zentrum war davon nichts zu sehen. Ein feuchter, heißer Tag. Zuerst wollten sich Carmen und Carl etwas ansehen, dann wussten sie nicht, was das sein könnte. Das Museum der Elf Fenster, die Kathedrale. Im Kopf war alles einerlei. Schweiß knisterte in den Ohren. Ein Schnitt ins Fleisch. Wenn das Blut zur Erde tropfte, würde man darauf deuten, »Oh« sagen, die Augen wieder schließen. Sie mussten trinken. Gelbe Sonnenschirme, gelbe Plastikstühle. Klirrende Limonade. Während in kälteren Städten die Geschwindigkeit der Menschen etwas mit ihrem Charakter zu tun hatte, gingen hier alle gleich. So langsam wie möglich, ohne stehenzubleiben.
    Wir fuhren mit einem Taxi zum Markt, an den Hafen. Sie aßen
Bobó de camarão
, ihre Kiefer knirschten. »Entschuldigung! Die Soße ist zu kalt. Können Sie bitte die Soße etwas anwärmen? Sehr schön …«, sie sagte es, als beschwerte sie sich gerne. Nicht aus einem Ärger heraus, sondern weil man etwas in Gang brachte. Ihr Körper sagte noch etwas anderes als ihre Sprache. Ohne dass ich wusste, was es war.
    In der Fischhalle wurde mir übel von dem warmen Blut aus den Kiemen. Gerötete Hände hackten Messer und Äxte in riesige, glitschige Leiber, einer von ihnen sah aus wie der Unterleib einer Meerjungfrau. Ein kleinwüchsiger Mann fuhr mit seiner Hand darüber. Die Fische stapelten sich auf und unter den Tischen. Nirgendwo zuvor habe ich so viel frischen Tod auf einer Stelle gesehen.
    Am Nachmittag bestiegen wir einen rostigen Dampfer, der zehn Minuten lang um seine eigene Achse stotterte. Eine Familie puhlte Krabben, sie kicherten. Die Kinder hatten kohlegefärbte Wangen, um die andere entschlossen schwirrten.
    Carl schlief, seine Glieder verrenkt. Carmen lehnte an der Reling, schaute in die Wand aus Bäumen. Vom Fluss kein Laut. Jede Küste hat ein Geheimnis, aber eine Waldküste spricht es aus: Dahinter liegt ein Geheimnis.
    Ihr fiel erst gar nicht auf, dass jemand neben ihr stand. Er hatte braune, leicht ausweichende Augen. Trug ein T-Shirt mit bunten Schriftzügen. An seinem Hals die erste, sanfte Rundung eines Kropfes. Sie wollte sichtlich locker sein, und mit diesem Wollen spannte sie ihren Körper an.
    »Bist du Französin?«
    »Deutsche.«
    »Ich habe einen Cousin in Deutschland, in Frankfurt.« Warum hatten bloß alle in diesem Land einen Cousin in Frankfurt? Vielleicht handelte es sich um eine geheime Verabredung. Ein Scherz unter Brasilianern, sobald sie einen Deutschen sahen.
    Er lebte auf der Ilha do Marajó, zu der wir fuhren, fing an, Geschichten von dort zu erzählen. Es gab einen Flussarm, der ins Zentrum des Ortes führte. Wenn dort ein Baumstamm hineintreibe, würde das bedeuten, dass bald jemand stirbt, sagte der Halbkröpfige. Nachts, auf den Schotterwegen, würde man häufig einen kleinen Feuerball in der Ferne sehen, das sei die
mãe-do-fogo
, ein Licht, das einen narre, weil es wolle, dass man sich in den Sümpfen verirre. Zu oft sei er im Dunkeln schon verlorengegangen und hätte das Morgengrauen dort abwarten müssen. Er lachte, links und rechts blitzte es aus den Zahnreihen. Sein Onkel sei so ängstlich, dass er am helllichten Tag, wenn er den Nebenfluss entlang müsse, die Leute am anderen Ufer lauthals begrüße und sogar
»bom díííía«
schreie, wenn gar niemand zu sehen sei. Einmal drang Wasser in Onkels Schuhe, er habe sich mit aufgerissenen Augen umgedreht und sei von dem
Quschwak, Quschwak
seiner eigenen Schuhe weggerannt.
    Carmen winkte lächelnd ab. Das seien doch Märchen. Dem Wald sei schließlich jeder Mensch egal. Wenn es denn eine Gefahr gäbe, dann sei das seine unendlich große Gleichgültigkeit.
    Sie sah, wie die bislang kaum sichtbare Falte zwischen seinen Augenbrauen zu einem Graben schwoll. Auch der Kropf schien zu schwellen. Nichts sei hier gleichgültig, alles hätte System und sei miteinander verbunden. Sie würden sich diese Geschichten erzählen, weil es sie daran

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