Mal Aria
an, nicht wie die anderen Ärzte, die das, was sie sahen, verglichen mit dem, was sie wussten. Er schaute sie an, als wüsste er nichts. Als könnte sie, als könnten ihre Augen ihm erst alles sagen.
Er legte die Hände auf ihren Bauch. Drückte und umfasste die Organe. Die aufgeblähte Leber, die schwere Milz. Er nahm die Organe in seine Hand, als wollte er sie vorsichtig herausheben. Wurde sie schon aufgeschnitten? Sie spürte nichts.
Er schaute sie wieder an. Es war einer dieser seltenen Momente, in denen Augen sich im Unendlichen begegnen, der eine fing nirgendwo an, und der andere hörte nirgendwo auf. Alles war gleichgültig, alles gut oder schlecht, weil alles wahr war.
Ihr Gesicht war nass. Er legte seine Hand auf ihre Wange. Dann sagte er es, wie zu sich selbst, murmelte es:
»Es ist Malaria.«
Sie hörte es. Das Wort kam aus dem Nichts, aus der Ferne, es klang fremd, und doch war es vertraut. Malaria. Blut rauschte durch ihre Adern. Das Blut fließt bis zum Schluss. Niemand hält es an. Das Wort erhob sich, breitete sich aus, es dröhnte in alle Winkel ihres Leibes und hallte darin wider: MALARIA . Sie hörte es, und sie sagte es, und sie nahm es an.
Der Arzt blieb bei ihr stehen, legte seine Hand auf ihren zitternden Arm. Im Hintergrund klapperte es. Ein letztes Mal. Dann wurde es still.
Selbst wenn es manchmal so aussieht: Der Tod ist nicht leise, er schleicht nicht. Was leise ist in der letzten Stunde, ist das Hinnehmen, das Annehmen, die Schwäche des Körpers. Der Tod aber hat eine Kraft. Er beendet das Leben. Und diese Kraft ist nicht umsonst da, wie sie bei der Geburt nicht umsonst da ist; sie bringt etwas Neues hervor. Der Tod kommt aus der Natur. Eine Naturgewalt ist er. Ein Wind, der einen mitreißt, der trägt. Er kommt über einen, wie die Geburt über die Frau kommt. Und ich glaube, er weckt in einem Kräfte, die man erst im Sterben kennenlernt. Die sich erst im Sterben zeigen. Weil man sie nur einmal braucht.
So sollte es sein. Und als der Wind sie davontrug, sah sie von oben, wie über das Metall des Untersuchungstisches eine Mücke krabbelte und krabbelte und krabbelte. Als wollte sie zu ihr.
Über Carmen Stephan
Carmen Stephan, geboren 1974, lebt in München und Rio de Janeiro. 2005 erschien der Geschichtenband ›Brasília Stories‹. ›Mal Aria‹ ist ihr erster Roman.
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Impressum
Cover: Alexis Zurflüh unter Verwendung eines Gemäldes von Henri Rousseau
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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ISBN 978-3-10-402058-7
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