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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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Carl am T-Shirt und versucht dabei, den Brei hinunterzuwürgen, der ihr die Kehle hochsteigt.
    Sie klopft Carl auf die Schulter, dumpfes Gemurmel. Kopfschmerzen! Balkontür zu! Es muss der Wind sein! Er bringt ihr zwei Tabletten, die sie mit einem Glas Wasser hinunterspült. Es wird doch gleich besser. Es wird besser. Alles wird gut. Sie muss morgen noch in der Reinigung anrufen, denkt sie. Bevor sie abreisen. Der Gürtel von ihrem Kleid ist weg. Er muss noch in der Reinigung liegen. Sie darf es jetzt deshalb nicht vergessen. Der Gürtel, der Gürtel. Bevor die ersten Sonnenstrahlen sanft in das Zimmer fallen, spürt sie, wie sich in ihrem Körper etwas auftürmt.

2 .Tag
    Der nächste Morgen. Ein schwarzer Junge, kugelrunde schwarze Augen, beugt sich über ihr Gesicht. Sie hält ihn für den
garoto pretinho da bacabeira
, der sich in den Amazonasdörfern herumtreibt. Ein Kind, nicht älter als acht. Wenn er einem Menschen auf der Straße begegnet, reiht er sich neben ihm ein. Er bittet ihn um etwas. Ein paar Münzen, ein Stück Brot. Wenn der andere ihn zurückweist, schlägt ihn die Faust Garotos mit voller Wucht ins Gesicht. Der andere landet im Staub der Straße, unfähig, wieder aufzustehen. Sie hat diese Geschichte auf der Ilha do Marajó gehört, aber weiß nicht, warum der Junge jetzt in ihren fliegenden Träumen auftaucht. Hatte er ihr auf den Kopf geschlagen? Geht es ihr nicht schon besser? Zwei Stunden später geht es hinunter zum Fluss, auf einem Holzwagen, ein Muli zieht ihn durch den Sand. Sie sitzt neben dem Kutscher. Unter ihrer Schädeldecke hat sich das Gehirn aus den Angeln gelöst. Mit jedem Hufschritt schwappt es hin und her.
Schwipp, Schwapp
. Irgendetwas war aus dem Wald in sie hineingekommen, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, was es war. Irgendetwas türmte sich weiter unaufhörlich in die Höhe, bereit, loszubrechen. Sie hatte eine Krankheit, oder die Krankheit hatte sie, nur welche war es? War es die Violine, war es das Cello, war es die Posaune oder war es das Klavier, das spielte?
    *
    Malaria dringt in deine Knochen ein, über das Brot, das du isst, und wann immer du deinen Mund öffnest.
    So dachtet ihr Kleingläubigen.
    Hunderttausende, fürchterliche Jahre.
     
    Es wird Zeit, mich näher vorzustellen. Wie konnte ich den Tod bringen, ohne es zu wollen? Ich brauchte kein Wollen. Es ist leicht, viel anzurichten. Im Guten wie im Bösen. Ein kurzer Stich genügt.
Pleased to meet you
. Schaut mich an. Schachbrettflügel, die Taster lang gewachsen wie der Stechrüssel, die Beine dünn und lang, Abdomen schüppchenlos, ein Wesen, nicht schwerer als ein Tropfen Wasser.
    Sie wusste nicht, dass ich es gewesen war. Ihr Blut in meinem war. Sie wusste nicht, dass ich in ihren Gedanken treiben konnte, wie ihr Blut in mir. Ich konnte sehen, was sie sah. Denken, was sie dachte. Fühlen, was sie fühlte. Vor ihr wollte ich das nie. Ich wollte bloß leben, wie alle anderen. Ihr Menschlein seid es, die mich daran hindern. Ihr jagt mich. Vernichtet uns.
    Wenn ich daran denke, fließt kalte Wut in meine Stichwaffe. Euer absurdes Theater. Ihr steigt auf Betten, hängt an Wänden, verrenkt euch, eure Gesichter verzerrt wie auf Plakaten eines Horrorfilms, ihr jammert und heult. Große Gefühle sind im Spiel, wenn ihr versucht, uns zu kriegen. Warum ist euer erster Impuls, uns zu töten? Werdet ihr so geboren? Schon kleine Kinder deuten mit dem Finger auf uns und rufen: Tot machen! Tot machen! Ihr bezeichnet uns als Plage, als Eindringlinge in eure Welt. Habt ihr jemals überlegt, dass es andersherum sein könnte? Erinnert euch, der Mensch wurde am letzten Tag erschaffen. An manchen Orten war der Himmel schon so voller Mücken, dass kein Licht mehr durchdrang. Ihr seid eine lächerliche Zahl unserer Schwärme. Ihr seid die Eindringlinge in unsere Welt.
    Es ist eine Welt, die ihr nicht durchdringt. Ihr fliegt in das Weltall und begreift nicht, was eine Mücke ist. Ihr wollt nicht verstehen, was für eine Dimension in der kleinsten Einheit aufgehoben ist. Die Macht der Natur ist es, den Tod in ein winziges Wesen, wie ich es bin, stecken zu können. Eines, das man übersieht. Das nichts ist. Ein krakeliges T in Schwarz. Ihr gabt mir einen griechischen Namen, Anopheles, was so viel wie »Nichtsnutz« bedeutet. »Ihre Larve wohnt im Wasser, und die Mücke sticht nicht«, hieß die kühne Behauptung unter meinem Abbild in der
Systema Naturae
. Verzeiht, dass ich laut lache.
    *
    An dem Tag, an dem sich unsere

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