Malenka
freundlich, auch das las man in den Zeugnissen, fast zu bescheiden bei all ihren Fähigkeiten, war die Meinung im Lehrerzimmer, denn was wußten sie dort schon von ihren Träumen. Andere zwar als früher, aber immer noch aufs Unerreichbare gerichtet.
Anna Jarosch hatte, wie Frau Dobbertin erfuhr, »Tritt gegen Kopf gekriegt«, als sie dahinterkam, und zwar bei einem Gespräch an Margots fünfzehntem Geburtstag, das sie eigentlich schon viel früher hatte führen wollen, gleich nachdem Margot konfirmiert worden war vor dem weißgoldenen Altar von St. Spiritus, in einem Kleid aus schwarzem Taft.
Es hatte Streit gegeben um dieses Kleid, viel zu teuer der Stoff, und dann noch Textilbezugsscheine, die Anna Jarosch dringend als Tauschmittel benötigte, um Fleisch für ihre Wursterei einzuhandeln. Doch Margot bestand auf dem Taft, dem Taftkleid, sonst nichts. Rosa Klingbeil mußte es nach ihren Anweisungen nähen, unten weit, oben eng, mit weißen Rüschen an Hals und Ärmeln. So trat sie in die Kirche, größer als die meisten Mädchen, die hellblonden Zöpfe um den Kopf gelegt, eine Krone nannte es Frau Dobbertin, die, noch kugeliger geworden mit den Jahren, wie ein Sauerkohlfaß, sagte ihr Mann, seit eh und je für große, schlanke Menschen schwärmte. Stolz saß sie neben Anna Jarosch und zögerte nicht, Margot lauthals zur schönsten Konfirmandin zu erklären, was ringsherum nicht nur Freude weckte und im übrigen auch nicht ganz stimmte bei näherem Hinsehen: ein wenig zu breite Backenknochen, die Nase leicht gebogen und keineswegs das Ebenmäßige von Hedwig. Allerdings besaß sie, wie die Mutter, Heinrich Jaroschs besonders helle Augen, und auch wenn sie lächelte, wurde sie ihr plötzlich ähnlich. Überhaupt schien es bei Margot alles in allem auf Einzelheiten nicht anzukommen, so daß Frau Dobbertin im Grunde recht hatte.
»Schönheit geht weg wie Tau auf Gras«, murmelte Anna Jarosch, Hedwigs eingedenk und voller Zweifel, ob ihr der Stolz, den sie ebenfalls fühlte, erlaubt sei. Jedenfalls beschloß sie, noch an diesem Abend mit ihrer Enkelin über die Zukunft zu reden.
Nach der Kirche, als sie wieder zu Hause waren, bekam Margot von ihr das silberne Medaillon der Marie Asmussen, lange verwahrt für diesen Tag, blankgeputzt und innen mit den Köpfen von Mutter und Großmutter versehen. Sie waren von dem einzigen Foto ausgeschnitten, das Anna Jarosch gemeinsam mit ihrer verstorbenen Tochter zeigte und vor nunmehr sechzehn Jahren von dem Ingenieur Kremer, Margots unsichtbarem, aber nach wie vor pünktlich zahlendem Vater, geknipst worden war.
Margot hatte das Medaillon in der Hand gehalten, stumm, als erblicke sie die Bilder zum ersten Mal, dann war sie ihrer Großmutter weinend um den Hals gefallen, »ist gut, Malenka, alles gut«, und Margot klammerte sich an sie, schutzsuchend wie damals auf dem Sofa zur Dämmerstunde.
Vorher am Altar, wo Pastor Riebeck sie kraft seines Amtes mit Segen und Konfirmationsspruch in das aufnahm, was er Gemeinschaft der Christen, aber auch die Welt der Erwachsenen nannte, ja selbst in dem feierlichen Moment des Abendmahls hatte sie weder Schauer noch Rührung empfinden können. Keine Spur von dem Hauch Gottes, allenfalls ein schlechtes Gewissen, weil sie hier nur um der Gepflogenheit willen stand, nicht aber aus Glaubenseifer, wie Pastor Riebeck es vorauszusetzen schien, bei ihr wie bei den anderen, obwohl er es vermutlich besser wußte.
Nichts hatte sich bewegt, unverändert war sie wieder auf den kleinen, sonnenbeschienenen Kirchplatz hinausgetreten, ein Spielort ihrer Kindertage, wo sie der ewig weinenden Leierkastenjule gelauscht hatte und dem Geschrei von August Krakehl, dem Lumpensammler. Und nun, mit dem Medaillon, kam die Wandlung. Ihre Mutter, dieses Bild immerwährender Jugendfrische, und daneben die Großmutter, alt schon damals, aber soviel älter geworden inzwischen, dem Tod um so viele Jahre nähergerückt, nicht mehr lange, und auch sie war nur noch ein Abbild für die Erinnerung. Die Endlichkeit des Lebens, darüber weinte sie, weinend überschritt sie die Grenze, von der Pastor Riebeck vergeblich geredet hatte. Erst als Dobbertins zum Essen kamen, gelang es ihr, sich wieder zu fassen.
»Mit allen guten Wünschen, Herzchen«, sagte Frau Dobbertin und gab ihr ein schwarzes Etui, in dem auf blauer Seide eine kleine silberne Armbanduhr lag.
»Ist die wirklich für mich?« fragte Margot erschrocken und preßte, als Herr Dobbertin »für wen sonst wohl«
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