Malenka
Lerche war vierundzwanzig und in der Kreisbank zur Sachbearbeiterin aufgestiegen, verliebte sie sich rettungslos, und nichts von Position und Reputierlichkeit, sondern ein Schauspieler mit modisch pomadisiertem Haar und dunklem Blick, Hanno Feit, der sie dazu brachte, ihren Zopf über Bord gehen zu lassen mitsamt der ganzen Ehrpusselei. Ein Skandal für ihre Mutter in mehrfacher Hinsicht. Denn nicht nur, daß diese Liebschaft in aller Öffentlichkeit stattfand, der Mensch, ohne Engagement momentan und völlig mittellos, hieß außerdem in Wirklichkeit Johannes Rosenfeld, Neffe des gleichnamigen Getreidehändlers aus der Bahnhofstraße, der ihm auch Unterkunft gewährte. Jude also, nicht einmal ein getaufter. Frau Lerche mochte sich kaum noch zeigen.
Lottchen aber ließ sich nicht mehr beirren. Mit Pagenkopf und kniefreiem Rock hüpfte sie an Hanno Felts Arm quer über den Markt, tanzte Charleston und Tango, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan, und lag ganze Sonntage viel zu dicht neben ihm am Strand des Madüsees. Nicht nur dort, hieß es allgemein, und selbst daraus machte sie kein Hehl, daß sie die Liebe kennenlernte zu ihrem lebenslangen Glück. Ich weiß, was Liebe ist, sagte sie später bei jeder sich bietenden Gelegenheit, Liebe, nicht Liebelei, dies mit Nachdruck, unter Hinweis auch auf das jede Geringschätzung verbietende tragische Ende der Verbindung. Denn gerade als alles sich zu regeln schien, ein Engagement am Stralsunder Theater, sogar von Verlobung war die Rede, starb Hanno Feit während einer Blinddarmoperation. Ein harmloser Eingriff an sich, mehr vorbeugend als unbedingt erforderlich, eben hatten sie noch am Madüsee gelegen, dann war es schon vorbei.
Das geschah im Herbst 1926, und aus Lottchen, kurzzeitig die flotte Lotte, wurde endgültig Fräulein Lerche mit ihren Erinnerungen. Schwarze Kleider und das Leben nun ganz der Kreisbank geweiht, unsere Konto-Nonne, nannte der neue Chef, Direktor Wimheuer, sie beim Skat am Stammtisch und übergab ihr einige Jahre später die Leitung der Kontokorrentabteilung, auch die Führung des Hauptjournals.
Frau Dobbertin, die teilnehmende Beobachterin von Lotte Lerches Weg, mißtraute dieser gemischten Hingabe an einen Toten und den Geldverkehr im Kreis Pyritz zutiefst.
»Jeden Abend zu Hause sitzen, dafür sind Sie doch zu jung«, hatte sie sich, als die Trauer kein Ende nehmen wollte, des öfteren zu sagen erlaubt und Ferien auf Rügen vorgeschlagen oder im Schwarzwald, vielleicht lernen Sie da jemand Nettes kennen, Ermunterungen, denen Fräulein Lerche geradezu entgegenfieberte, um von ihrer Liebe sprechen zu können, die sie erlebt habe in so reichem Maße, und ihr Verlobter habe diese Treue verdient, Hanno Feit, keiner wie er, und so weiter ohne Ende. Es könnte einem angst und bange werden, vertraute Frau Dobbertin Anna Jarosch an und äußerte die Befürchtung, daß Lottchen Lerche wohl eines Tages noch völlig überschnappe mit diesem Kuddelmuddel im Herzen.
So jedenfalls sah die Basis für Margots Lehrstelle aus. Fräulein Lerche übernahm die Vermittlung bei Direktor Wimheuer und dem Prokuristen Heese, das Arrangement kam zustande, und Margot fügte sich ohne Widerspruch. Doch die Bank war nicht ihr Ort, wie sehr man sich auch bemühte, sie für die neue Tätigkeit zu erwärmen, Fräulein Lerche mehr oder minder verstiegen und Anna Jarosch mit der Aufzählung sämtlicher Vorteile. Vor allem wies sie auf den Lohn hin, achtundvierzig Mark schon im ersten Lehrjahr, dreiundsechzig im zweiten, neunzig gar im letzten, Summen, für die man Gott auf Knien danken müsse, zumal der Ingenieur Kremer seit Margots sechzehntem Geburtstag keine Alimente mehr zahlte.
Anna Jarosch hatte recht. Auch Frau Dobbertin hatte recht, die von Lebensstellung sprach und Sicherheit, denn wer wisse denn, ob noch genug Männer übrigblieben nach diesem Krieg. Alle hatten recht, doch was vermochten Argumente gegen den immerwährenden Druck dort, wo das Weinen wurzelte. Margot ertrug es kaum, am Lyzeum vorbeizugehen, vermied auch die Stettiner Straße, wo zwischen fünf und sechs, wenn sie von der Arbeit kam, die Schüler auf und ab bummelten, und als Lore Möller, neben der sie im letzten Schuljahr gesessen hatte, ihr eines Abends begegnete, wäre sie fast davongelaufen.
Lore Möller hielt ihre Hand fest. »Wie geht es dir denn?«
Sie standen auf dem Marktplatz, die Sonne schien noch, und rundherum das Rathaus, der Deutsche Hof, die Adler-Apotheke, die
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