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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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kräftig nach vorn stoße.
    »Du bekommst keinen Kuchen«, sagt meine Mutter, nachdem sie eine Weile überlegt hat. »Das wird dich lehren, diese armen kleinen
     Mädchen zu drangsalieren.«
    »Ts, ts, ts«, macht der Vater. Mehr wird er nicht dazu sagen. Ich schweige hochmütig. Während der Vater sein trübes Gesicht
     über den Teller beugt und die Mutter aufsteht, um das Mischgericht vom Herd zu nehmen, das dort seit dem Vortag brodelt, nutze
     ich die Gelegenheit und schneide der Heulerin Pélagie eine abscheuliche Grimasse. Sie fängt neuerlich zu heulen an und beklagt
     sich in ihrem beschränkten Wortschatz, daß ich sie »angeschaut« hätte.
    »Na und«, sage ich und lasse meine unschuldsvollen Augen (doppelt unschuldsvoll, da sie ja blau sind) in die Runde gehen.
     »Habe ich jetzt nicht mal mehr das Recht, dich anzuschauen?«
    Schweigen. Ich tu so, als könnte ich von dem ausgezeichneten mütterlichen Ragout nur mit Überwindung essen. Ich bin sogar
     so mutig und lehne den Rest aus dem Topf ab, den man mir pflichtgemäß anbietet. Und während die Tischrunde sich gütlich tut,
     blicke ich unverwandt auf einen mit Fliegendreck beschmutzten Stich über der Anrichte. Er stellt die »Heimkehr des verlorenen
     Sohnes« dar.
    Der rechtschaffene Sohn, in einer Ecke des Bildes, macht ein sehr betrübtes Gesicht. Ich kann es ihm nicht verdenken. Denn
     ihm, der unablässig für seinen Vater geschuftet hat, ist das Lämmchen verweigert worden, das er mit seinen Gefährten verspeisen
     wollte. Und für den kleinen Lumpen, der auf den Hof zurückkehrt, nachdem er sein Erbteil mit Schlampen verludert hat, schlachtet
     man ohne Zögern das fette Kalb.
    Ich beiße die Zähne zusammen und denke: Mit meinen Schwestern und mir ist es geradeso. Weichliche, dümmliche Dinger. Und trotzdem
     hat die Mutter sie immerfort zu verhätscheln, ob sie sie nun mit Kölnischwasser übergießt oder kämmt oder ihnen mit dem Brenneisen
     schöne Locken dreht. Unhörbar muß ich lachen: Letzten Sonntag habe ich mich leise hinter die beiden geschlichen und ihnen
     Spinnweben auf die hübschen Locken gelegt.
    Diese glückliche Erinnerung hilft mir, nicht der Verzweiflung |10| nachzugeben, während mein Blick von dem Stich mit dem »Verlorenen Sohn« zu dem Aprikosenkuchen wandert; sein Duft steigt mir
     in die Nase, und auf der Truhe sehe ich seinen goldgelben Rand schimmern. In diesem Moment erhebt sich die Mutter und setzt
     ihn, nicht ohne eine gewisse Feierlichkeit, auf den Tisch – mir vor die Nase.
    Ich stehe sofort auf und gehe, die Hände in den Hosentaschen, zur Tür.
    »Nanu«, sagt der Vater mit der heiseren Stimme von Leuten, die wenig reden, »möchtest du deinen Kuchen nicht?«
    Sein Widerruf kommt zu spät, und ich weiß ihm keinen Dank dafür. Ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen, wende ich mich
     um und sage über die Schulter hinweg kurz angebunden: »Keinen Hunger.«
    »He! Wie sprichst du mit deinem Vater!« fängt die Mutter gleich an.
    Ich höre mir die Fortsetzung gar nicht erst an. Die endlose Fortsetzung. Sie wird dem Vater seinen Kuchen versalzen, wie sie
     mir den meinen entzogen hat.
    Ich gehe hinaus und treibe mich auf dem Hof der Grange Forte herum, die geballten Fäuste in den Taschen. In Malejac sagt man,
     mein Vater sei gut wie gutes Brot. Genau. Zuviel Krume, zuwenig Kruste.
    Ich brüte vor mich hin, wütend und verbittert. Unmöglich, mit dieser Kuh (das ist das Wort, das ich gebrauche) ein ernsthaftes
     Gespräch zu führen. Sie demütigt mich, sie liefert mich dem Gelächter dieser dummen Puten aus, und was der Gipfel ist, sie
     bestraft mich obendrein. Der Obstkuchen geht mir nicht aus dem Sinn. Nicht des Kuchens, sondern der Demütigung wegen. Die
     Fäuste in den Taschen geballt, laufe ich den Hof auf und ab und recke meine breiten Schultern. Dem Besten des ganzen Kantons
     den Nachtisch zu entziehen!
    Es ist der berühmte letzte Tropfen, und ich schäume über. Mich packt die kalte Wut. Und noch dreißig Jahre später sehe ich
     mich wüten. Rückblickend scheint mir, daß ich kein sehr guter Ödipus war. Jokaste kam nicht in Gefahr, nicht einmal in Gedanken.
     Ich »bringe« zwar meinen Komplex, aber nicht auf sie bezogen, sondern auf Adelaide, unsere Krämerin. Die hat ein fröhliches
     Lachen, ist rasch mit einem Bonbon bei der Hand und ist überdies eine üppige Blondine mit einem Busen |11| zum Träumen. Ich »bringe« auch – was für ein Jargon! – eine richtige Identifikation,

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