Malice - Du entkommst ihm nicht
war. Wenn er im Comic starb, starb er auch in Wirklichkeit.
Genau wie Luke.
Sie verbannte diesen Gedanken aus ihrem Kopf, als wäre er ein gefährliches Tier, das sich losreißen und auf sie stürzen könnte. Auch wenn sie Luke nicht besonders lang gekannt hatte, hatte sie ihn trotzdem so gern gehabt, dass sein Tod sie zutiefst erschütterte. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, wie Seth sich fühlen musste. Kein Wunder, dass er sofort aufgebrochen war, um die Welt von Tall Jake zu befreien. Das war seine Art, dem Tod seines besten Freundes im Nachhinein wenigstens irgendeinen Sinn zu geben.
Auf der letzten Seite des Comics sah sie, wie Seths Begleiter irgendetwas aus der Tasche des toten Jungen zog und es Seth gab.
Sie beugte sich vor und betrachtete es mit zusammengekniffenen Augen.
Es war ein weißer Zettel mit einem gezackten Rahmen und einer großen Eins in einem Dornenkranz.
»Das gibt’s nicht!«, entfuhr es ihr.
Sie sprang zum Schreibtisch und riss die Schublade auf. Marlowe war immer noch damit beschäftigt, die Stifte auf der Tischplatte herumzurollen. Aber das war ihr im Moment egal. Mit fliegenden Fingern kramte sie den Schein aus der Schublade. Den Schein, den sie aus Malice mitgebracht hatte. Nur dass die Eins im Kreis nicht für einen bestimmten Geldwert stand, sondern für eine Zugfahrt.
Sie hatte ein Zugticket. Ein Zugticket nach Malice. Sie hatte es die ganze Zeit besessen.
Marlowe miaute kläglich.
»Was ist denn jetzt schon wieder?« Kady stöhnte auf. Allmählich wurde es ihr mit diesem Kater wirklich zu bunt! Sie wollte ihn gerade aus dem Zimmer jagen, als ihr Blick auf den Schreibtisch fiel.
Sie wurde kreidebleich.
Marlowe saß vor ihr und starrte sie an. Die Stifte zu seinen Pfoten waren so angeordnet, dass sie ein Wort ergaben.
Die Flucht
1
Kady starrte mit offenem Mund abwechselnd auf den Kater und die Stifte.
Marlowe neigte den Kopf zur Seite und sah sie an, als wollte er sagen: Ja, toll, ich kann schreiben. Na und?
An jedem anderen Tag wäre Kady wahrscheinlich zu überwältigt gewesen, um zu glauben, was sie mit eigenen Augen sah. Aber heute war sie bereits mit so viel Unglaublichem konfrontiert worden, dass sich etwas in ihr verändert hatte. Ihr gesunder Menschenverstand hatte es aufgegeben, gegen jede weitere Absurdität zu protestieren, und sich stattdessen schlafen gelegt.
Wer oder was Marlowe in Wirklichkeit auch immer war, die Botschaft war unmissverständlich: FLIEH.
Aber wohin sollte sie fliehen?
Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als sie auch schon die Antwort bekam. Ihr Blick fiel auf das Zugticket in ihrer Hand.
Sie steckte es entschlossen in die Hosentasche, zog ihre Wanderstiefel an und holte ihren großen Rucksack aus dem Schrank. Dann ging sie nach unten in die Speisekammer und packte Proviant ein: ein großes Stück Kürbispastete (glutenfrei), Bioäpfel, Müsliriegel und ein paar Dosen mit Bohnen in Tomatensoße. Sie füllte am Spülbecken mehrere Flaschen Wasser ab und steckte sie in den Rucksack.
Was noch, was noch? Denk nach, Kady! Natürlich war ihr klar, dass jede Sekunde zählte, aber sie wollte auf keinen Fall Hals über Kopf nach Malice aufbrechen. Sie würde so viele überlebensnotwendige Dinge wie möglich mitnehmen. Im Gegensatz zu Seth war sie immer schon der Meinung gewesen, dass eine gute Vorbereitung das A und O jeder Unternehmung war. Auf ihren Ausflügen war immer sie diejenige gewesen, die sich um die Ausrüstung gekümmert hatte. Sie hatte so oft mit ihrer Mutter in der kalifornischen Wildnis gezeltet, dass sie ganz genau wusste, worauf es ankam.
Taschenlampe, Messer, Angelschnur und Haken hatte sie oben in ihrem Zimmer.
Sie zog die Schublade auf, in der Greg die Reservebatterien aufbewahrte, steckte ein paar Packungen davon ein und ging dann wieder hinauf.
»Schatz?«, rief ihre Mutter aus dem Wohnzimmer. Kady kannte den Tonfall. Ihre Mutter war in Lass-uns-über-alles-reden-Stimmung. Wahrscheinlich wollte sie sich mit ihr über Seth unterhalten und ihr sagen, sie solle ihre Gefühle nicht in sich hineinfressen. Normalerweise vertraute Kady ihrer Mutter wie einer guten Freundin, aber im Augenblick fühlte sie sich nicht in der Lage, ihr gegenüberzutreten. Nicht nach dem, was sie gerade erfahren hatte.
Also tat sie so, als hätte sie nichts gehört, und rannte die Treppe hinauf in ihr Zimmer.
Als sie dort ankam, hockte Marlowe im Schrank und kratzte an der Stofftasche, in der sie ihre Kletterausrüstung
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