Malka Mai
dass du sie Malka nennst.« Als Hanna schwieg, fügte sie hinzu: »Bitte.«
Hanna wusste nicht, was sie antworten sollte. Malka war ihre ältere Schwester gewesen, die schon als Kind gestorben war. Hanna hatte keinerlei Erinnerung an sie, aber diese tote Malka hatte sie als Phantom durch ihre Kindheit begleitet, dieses schöne, gute, immer folgsame Kind, das seinen Eltern nur Freude gemacht hatte, solange es lebte.
Ihre Mutter hatte sie schon nach Minnas Geburt gebeten, das Kind Malka zu nennen, damals hatte sie das abgelehnt und gesagt, sie habe Angst vor diesem Namen, weil ihre Schwester so jung gestorben sei. Der Name könne ein schlechtes Omen für ein Neugeborenes sein. Sie wollte das Argument gerade wieder vorbringen, da fing ihre Mutter an zu weinen. »Bitte, Hanna, die Erinnerung an mein Kind soll nicht verloren gehen, nenne die Kleine Malka, sie wird leben, das spüre ich. Ich verspreche dir, dass sie am Leben bleibt.«
Ihre Tränen waren auf das kleine Gesicht gefallen, das Neugeborene hatte den Mund verzogen und mit den Fäustchen gefuchtelt.
»Gut«, hatte Hanna gesagt. »Sie soll Malka heißen.«
Das offensichtliche Glück im Gesicht ihrer Mutter hatte sie, wenigstens für einige Zeit, einander näher gebracht, als sie es je gewesen waren. Es hatte sie selbst glücklich gemacht und sie hatte sich weniger einsam gefühlt.
Unten fiel krachend ein Stuhl um, eines der Mädchen weinte.
Malka rannte durch das Dickicht , sie achtete nicht darauf, dass Zweige ihr Gesicht zerkratzten, ihre Hände, sie versank im Schnee, zog mühsam die Schuhe wieder heraus, stolperte über einen Ast, fiel hin, stand wieder auf, rannte weiter. Warum lassen sie mich nicht in Ruhe, dachte sie, ich will doch nur in Ruhe gelassen werden …
Hinter sich hörte sie Zweige knacken, schwere Stiefel, die durch den Schnee rannten. Sie keuchte und bekam fast keine Luft mehr, aber sie gab nicht auf. Sie rannte, so schnell sie konnte, trotzdem kamen die Stiefel immer näher. Und dann hatte der Mann sie erreicht. Er schlang die Arme um sie und drückte sie fest an sich. Sein Gesicht sah wütend und gekränkt aus, sie wandte den Kopf ab. Niemand konnte ihr helfen, sie war den beiden ausgeliefert, der alten Frau, die so freundlich getan hatte, und dem Mann, der sie jetzt zurücktrug und die ganze Zeit vor sich hinfluchte.
Er stieg mit ihr auf den Schlitten, wickelte sie wieder in die Decke und drückte sie der alten Frau auf den Schoß. »Dass du das ja nicht noch einmal machst«, sagte er, »dann binde ich dich fest.«
Malka senkte die Augen, der Mann kletterte wieder auf den Bock und knallte mit der Peitsche. Das Knallen hörte sich an wie Schüsse der Deutschen. Die alte Frau hielt Malka so fest, dass sie sich nicht bewegen konnte, wie mit Schraubstöcken wurden ihre Arme an ihren Körper gepresst. In ihrem Nacken und am Kopf spürte sie den warmen Atem der Frau, die Worte brummelte, die vermutlich beruhigend sein sollten. Aber Malka ließ sich nicht beruhigen, sie ergab sich nur in ihr Schicksal, weil ihr nichts anderes übrig blieb. Mit der Zeit wurde der Griff der alten Frau lockerer, aber nicht locker genug, dass Malka sich hätte befreien können. Sie hätte es auch nicht mehr versucht, es war sinnlos.
Das Weiß des Schnees färbte sich in der Dämmerung langsam blau. Als sie an einem Haus ankamen, das mitten im Wald lag, war es schon dunkel. Der Mann hob Malka vom Schlitten, er ließ sie nicht los, er trug sie, in die Decke gewickelt, zum Haus, dort blieb er stehen und wartete, bis die alte Frau abgestiegen war und ihnen die Tür aufmachte.
Erst als sie in einer Küche mit einem großen Ofen standen, wickelte der Mann Malka aus der Decke. Sie blieb steif stehen, rührte sich nicht. An einem großen Tisch saß eine Frau mit einem kleinen Mädchen auf dem Schoß und blickte ihr entgegen, ein anderes Mädchen spielte auf dem Boden mit Holzblöcken. Die Frau deutete mit der freien Hand zum Ofen. Malka senkte den Kopf, ihre Schultern fielen nach vorn.
»Weiter«, sagte die alte Frau hinter ihr, »weiter, oben auf dem Ofen.«
Malka merkte, wie der Mann, der sie hergefahren hatte, sie um die Taille nahm und auf den Ofen hob. Willenlos ließ sie es sich gefallen. »Malka«, sagte eine Stimme, die sie von früher kannte. »Malkale.«
Und da saß sie, die Frau Doktor, die sie das letzte Mal in Ungarn gesehen hatte, in der Mühle, als sie krank im Bett lag.
Malka ließ sich rückwärts vom Ofen rutschen, packte die alte Frau, die
Weitere Kostenlose Bücher