Malka Mai
verdächtig, bei uns taucht immer mal wieder jemand auf, seit der Sache mit Malka. Ich hatte sie damals den Deutschen ausliefern sollen, aber ich habe sie nach Skole gebracht und zu Kommandant Schneider gesagt, sie sei weggelaufen. Ich bin sicher, dass er mir nicht geglaubt hat.«
Er legte den Arm um Teresa. »Könnten wir die Frau Doktor nicht zu deiner Mutter bringen?« Er wandte sich an Hanna. »Meine Schwiegermutter lebt mit Teresas Schwester Bronja und ihrem Mann Frantek und den Kindern mitten im Wald, ungefähr zwei Stunden von hier. Frantek ist Köhler. Er und Bronja sind unverdächtig, ich glaube, die Deutschen wissen noch nicht einmal, dass es sie gibt.«
Und so geschah es. Der Förster fuhr Hanna und Zygmunt in den Wald. Mit dem Schlitten dauerte die Fahrt auch keine zwei Stunden und Hanna musste nicht in den Zwischenboden kriechen, weil gegen Abend, in der beginnenden Dämmerung, niemand im Wald herumlief, noch dazu bei diesem Schnee. Sie saß zwischen den beiden Männern auf dem Bock.
Noch am selben Abend entstand der Plan. Babka Agneta, Teresas und Bronjas Mutter, sollte nach Stryj fahren, um Malka zu holen.
Die Männer waren ganz aufgeregt und redeten auf die alte Frau ein, die noch nie allein mit dem Zug gefahren war. Hanna betrachtete die Szene, als habe sie gar nichts damit zu tun. Die Stimmen der Männer wurden lauter, ihre Gesichter röter. Die Einwände der alten Frau wurden schwächer, schließlich nickte sie ergeben. Hanna zog das Tuch, das Bronja ihr über die Schultern gehängt hatte, fester um sich. Wieder einmal blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten.
Malka war verstummt . Es war, als hätte sich ihre Stimme vor Schmerz in ihr Inneres zurückgezogen, als wollte sie nie wieder mit jemandem sprechen, nachdem sie nicht mehr mit Rafael sprechen konnte. Immer wieder streichelte sie den Apfel in ihrer Manteltasche, den sie Rafael hatte mitbringen wollen. Sie wollte ihn nicht essen, nie. Er sollte für immer in ihrer Tasche bleiben, um sie an Rafael zu erinnern. Die Betten im Krankenhaus wurden wieder voll, andere Menschen zogen ein, andere Kinder. Malka schaute sie nicht an, sie wollte keine Gesichter sehen. Sie wollte auch Schwester Zippi und Schwester Rosa nicht ansehen. Die beiden versuchten immer wieder, mit ihr zu reden, auch Doktor Burg versuchte es, aber niemand drang zu ihr durch, noch nicht einmal der alte Schmulik. Malka war wie unter einer Glasglocke, sie bewegte sich, sie aß und trank, was man ihr gab, sie ging aufs Klo, sie schlief. Aber das war alles.
Nach ein paar Tagen nahm sie ihre Wanderungen durch das Ghetto wieder auf. Es waren weniger Leute neu hinzugekommen, als alte weggegangen waren, das Ghetto war seltsam leer nach der Überfüllung vorher. Ab und zu erkannte Malka ein Gesicht von früher, sah, dass die Leute genauso erschraken wie sie, wenn sie sie ebenfalls erkannten, als wären sie persönlich schuldig, weil sie noch da waren und die anderen nicht. Malka fühlte sich auch schuldig. Sie hätte Rafael mitnehmen müssen auf die arische Seite. Sie hatte nur an sich gedacht.
Das einzige Gefühl, das sich nicht betäuben ließ, das genauso heftig und lebendig und allgegenwärtig blieb, war der Hunger. Aber Malka hatte gelernt, den Hunger zu lieben, denn nur der Hunger verband sie noch mit dem Leben. Sie aß morgens ihr Stück Brot im Krankenhaus, dann lief sie durch das Ghetto, ohne zu betteln. Erst wenn sie am späten Nachmittag wieder ins Krankenhaus zurückkam, aß sie ihren Teller Wassersuppe und legte sich ins Bett, mit dem Gesicht zur Wand.
An einem Tag, als Malka am späten Nachmittag das Krankenhaus betrat, kam ihr Schwester Zippi entgegen. »Malka«, rief sie, »da bist du ja. Wir haben dich überall gesucht.«
Sie zog die widerstrebende Malka die Treppe hinauf und schob sie in Doktor Burgs Zimmer. Der Arzt kam auf sie zu, nahm sie an den Schultern und drehte sie zu einem Stuhl, auf dem eine alte Bäuerin saß, schwarz gekleidet und mit einem weißen Kopftuch. »Malka«, rief er. »Schau nur, diese Frau ist gekommen, um dich abzuholen. Malka, hörst du? Deine Mutter wartet auf dich.«
Malka schaute die Frau an, sie schaute Doktor Burg an, dann riss sie sich los und rannte hinaus. Erst als sie durch das Loch gekrochen war und auf der arischen Seite des Lattenzauns war, blieb sie stehen und wartete, bis ihr Atem ruhiger wurde. Sie stand in dem schmalen Zwischenraum zwischen Haus und Zaun, frierend und mit leerem Kopf, und wartete. Einmal hörte sie
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