Malka Mai
sie hierher gebracht hatte, am Arm und sagte: »Wo ist Teresa? Ich will zu Teresa.«
Die alte Frau legte die Hand auf Malkas Kopf, eine kalte, schwere Hand. Sie atmete schwer. Die Frau, die am Tisch saß, stieß einen erschrockenen Ton aus. Ihr Gesicht war kaum zu sehen. Die Petroleumlampe flackerte, Schatten krochen über den Fußboden. Es war still, sehr still. Als Malka die Frau oben, auf dem Ofen, weinen hörte, hob sie verwundert den Kopf.
Nachbemerkung
Vor vier Jahren, 1996, habe ich Malka Mai in Israel getroffen und sie hat mir ihre Geschichte erzählt, beziehungsweise das, was sie noch weiß. 1943 lebte sie mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester in Lawoczne, einem Ort in den Karpaten. Das Gebiet gehört heute zur Ukraine, damals gehörte es zu Polen, und Polen war von den Deutschen besetzt. Nicht weit von Lawoczne war eine Grenze, die es heute nicht mehr gibt, nämlich die Grenze zu dem von den Ungarn besetzten Gebiet der Ukraine.
Malka ist also eine reale Person, trotzdem ist die Geschichte, die in diesem Buch erzählt wird, weitestgehend fiktiv. Ich musste mir eine eigene Geschichte ausdenken, weil Malka Mai sich nur an wenige Eckpunkte erinnert, sie war zu jung, sie hat diese für sie sehr schwere Zeit verdrängt. Die wirkliche Malka Mai, die von ihrer Mutter aus Polen wieder nach Ungarn gebracht wurde, nach Budapest, fuhr 1944 mit der Jugend-Alijah nach Palästina. Die Jugend-Alijah war von jüdischen Organisationen ins Leben gerufen worden, um jüdische Jugendliche und Kinder aus dem von den Nazis beherrschten Europa zu retten. Malka und ihre Schwester Minna kamen also nach Palästina und lebten zunächst mit ihrem Vater im Kibbuz. Ihre Mutter wanderte erst nach der Staatsgründung (1948) nach Israel ein. Die Familie lebte nicht mehr zusammen, Minna war schon erwachsen, Malka hatte sich im Kibbuz eingelebt.
Heute wohnt Malka Mai in einem Vorort von Tel Aviv. Sie hat drei Kinder und zwei Enkel.
Mirjam Pressler
Worterklärungen
Approbation : Um den Beruf als Arzt ausüben zu können, braucht man eine staatliche Zulassung, die so genannte Approbation.
Bejgel, pl. Bejgelech (jidd.) : Hefekringel
Ciotka (poln.) : Tante
Erez-Israel: Für die aus Palästina vertriebenen und in der ganzen Welt verstreuten Juden war Erez-Israel jahrhundertelang die Bezeichnung für das verlorene Land der Väter. Vor der Gründung des modernen Staates Israel 1948 war Erez-Israel der unter allen Juden verbreitete Name für Palästina.
Ghetto: Seit dem Mittelalter Bezeichnung für ein geschlossenes jüdisches Wohngebiet. Mit der Erlangung der Bürgerrechte im 19. Jhd. entfiel für europäische Juden der Ghettozwang. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden die Juden erneut gezwungen, in »Judenvierteln« zu leben.
Jiddisch: Sprache, die von den Juden in Osteuropa gesprochen wurde. Jiddisch besteht zu einem großen Teil aus mittelhochdeutschen Dialekten, gemischt mit vielen hebräischen Wörtern.
Jugend-Alijah: So nannte man die Bemühungen von jüdischen Organisationen wie Jewish Agency (Sochnut), während der Nazizeit junge Juden aus Europa zu retten und nach Erez-Israel zu bringen.
Kaddisch: altes Gebet, das die Heiligkeit Gottes verkündet und um Frieden für Israel und die ganze Welt bittet. Außerdem dient es als Waisengebet, das von den Söhnen für ihre verstorbenen Eltern bei der Beerdigung und während des Trauerjahres und später am Todestag gesprochen wird.
Kaftan: langes, enges, vorne geknöpftes Obergewand frommer Juden.
Kibbuz: landwirtschaftliche Siedlung in Israel, geprägt von gemeinsamer Arbeit und gemeinsamem Eigentum der Mitglieder.
koscher (jidd.): Koschere Lebensmittel sind solche, die den jüdischen Speisegesetzen entsprechen. Als unrein und verboten gilt zum Beispiel Schweinefleisch und das Mischen von fleischigen und milchigen Gerichten.
Pejes: Schläfenlocken.
Pfeilkreuzler: Name der faschistischen Nationalsozialisten in Ungarn.
Schochet: Metzger, der zum Verzehr bestimmte Tiere den religiösen Vorschriften entsprechend schächtet.
Tallit: Gebetsmantel; viereckiges Tuch mit Quasten an den Ecken. Es wird von männlichen Personen beim Morgengebet getragen.
Mirjam Pressler
© Alexa Gelberg Mirjam Pressler, geboren 1940 in Darmstadt, studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Frankfurt am Main und verbrachte ein Jahr in einem Kibbuz in Israel. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in der Nähe von München. Für ihre Bücher wurde sie mit vielen
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