Mallorca Schattengeschichten
schaltete sie den Computer aus und verließ das Büro.
Sie fuhr auf die Vía de Cintura, die Stadtautobahn, verließ Palma in westliche Richtung und wechselte bei Cala Major auf die Autobahn nach Andratx. Seit einem Jahr war die Autobahn fertig. Anfangs war sie gegen den Bau der Schnellstraße gewesen, die sich wie ein breiter Gürtel durch die Landschaft fraß. Wenigstens war der Mittelstreifen mit rosa blühenden Oleandersträuchern bepflanzt worden, was ein wenig von der Hässlichkeit der Schnellstraße ablenkte. Zwischenzeitlich musste sie widerwillig gestehen, dass die neue Verbindungsstraße auch ihre Vorteile hatte. Sie benötigte nur noch die halbe Zeit für die Strecke nach Es Camp de Mar. Gemächlich fuhr sie am Golfplatz von Andratx vorbei, durchquerte den verschlafenen Ort und bog in die Straße Camí de la Cala Blanca ein, die zum Cap des Llamp führte, wo das Haus ihrer Freundin Célia Crespo lag.
Sie parkte den Wagen und ging um das Haus zum Hintereingang, um in die Küche zu gelangen. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Célia unter einer Palme in einem der Gartenstühle saß und aufs Meer hinausblickte.
»Wolltest du nicht kochen?«, rief sie Célia von der Küche aus zu. Célia reagierte nicht. Sie hatte sie wohl nicht gehört. Cristina überquerte den Rasen, um ihre Freundin zu begrüßen, und sah an den rot geränderten Augen, dass sie geweint haben musste. Sie kniete neben der alten Dame nieder. »Was ist denn passiert?«
»Carmen ist tot!« Erneut füllten Tränen Célias Augen. Cristina nahm ihre Freundin in die Arme. Ihr Hals wurde trocken und sie schluckte schwer. Carmen war nicht nur Célias Nachbarin, sie waren seit über sechzig Jahren befreundet gewesen. Ebenso wie ihre eigene Großmutter zu dem Dreigestirn gehört hatte. Cristina war bei ihnen aufgewachsen. Ihre Carmen war tot? Das konnte nicht sein. Sie kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an.
»Sie ist nicht mehr aufgewacht. Gestern war ihr nicht gut, und heute Morgen war sie einfach tot.« Célia wischte sich die Tränen von der Wange. »Dieser Trottel von Zapatero hat sie untersucht und erklärt, sie sei friedlich im Schlaf gestorben. Du kennst doch Enrique Zapatero, oder?«
»Du meinst doch nicht etwa den Säufer? Wer hat denn den gerufen?«
»Er ist Marías Arzt. Sie hat Carmen tot im Bett gefunden und wusste sich nicht anders zu helfen.«
»Wo ist Carmen jetzt? Ich möchte sie gerne sehen und mich von ihr verabschieden.« Cristina wischte sich verstohlen eine Träne von der Wange.
»Wir können noch heute in die Aussegnungshalle von Último Descanso fahren, dort ist sie aufgebahrt. Sie werden sich auch um die Beerdigung kümmern. Ich kann nicht glauben, dass Carmen wirklich tot ist. Sie war weder krank noch schwach. Sie hat sogar letzte Woche vorgeschlagen, nochmals nach Ronda zu fahren, um in alten Zeiten zu schwelgen. Schließlich haben wir uns alle dort kennen gelernt.« Célia bekam erneut einen Weinkrampf und ihr zarter Körper wurde durchgeschüttelt. »Jetzt bin nur noch ich übrig.«
»Carmen wurde zweiundneunzig Jahre und war nie krank. So viel Glück hat nicht jeder.« Cristina strich Célia eine dunkelgraue Haarsträhne aus dem Gesicht. »Außerdem bist du doch nicht allein.« Und ich auch nicht, dachte sie.
Sie war Carmen und Célia sehr dankbar, dass sie sich nach dem tödlichen Unfall ihrer Eltern in den Schweizer Bergen um sie gekümmert hatten. Im Testament ihrer Eltern war festgehalten worden, dass das Sorgerecht für sie auf Célia übergehen solle. Célia hatte diese Aufgabe damals trotz ihrer siebzig Jahre gerne übernommen. Cristina wurde mit zehn Jahren Vollwaise ohne lebende Verwandte. Wenn Célia und Carmen sie nichtaufgenommen hätten, wäre sie in einem Waisenhaus aufgewachsen. Ihre eigene Großmutter hatte sie nie kennen gelernt, dafür hatte sie zwei liebevolle Ersatzgroßmütter gehabt. Sie verdankte den beiden alten Damen eine glückliche Kindheit.
»Ach Kind, du weißt schon, was ich meine. Du bist jung, und ich …«, Célia schnäuzte sich lautstark.
»Sollen wir nun ins Beerdigungsinstitut fahren?«, fragte Cristina. Sie wollte sich unbedingt von Carmen verabschieden. Es wäre sehr schwer, Carmen in einem offenen Sarg aufgebahrt zu sehen. Cristina ging ungern zu Beerdigungen. Sie zog es vor, sich so an die Menschen zu erinnern, wie sie zu Lebzeiten gewesen waren. Trotzdem war sie es Carmen schuldig.
Célia stand auf und nickte. »Wir sollten uns auf den Weg machen. Erst möchte ich
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