Man lebt nur ewig
hatte mehrmals auf den Kerl geschossen, und dadurch war nicht einmal sein hübsches Karohemd schmutzig geworden. Aber wenn man ihm eine auf die Zwölf gab, brauchte er für die nächsten vierundzwanzig Stunden ein Coolpack. Wie konnte das sein?
Weil es nicht sein Auge ist , flüsterte mein Verstand. Erinnere
dich an den Film aus dem Enkyklios. Als der Schröpfer die Seele abgegeben hat, musste er einer armen Frau ein Auge ausreißen, um das zu ersetzen, das er verloren hatte. Wenn es also kein Teil von ihm ist, ist es vielleicht auch nicht geschützt. Vielleicht ist das seine Schwachstelle.
»Ziel auf die Stirn, Vayl!«, schrie ich. »Das ist seine Achillesferse!« Ich unterbrach mich. Okay, war das gera- de vielleicht das Dämlichste, was ich jemals gesagt hatte? Die Jury hatte keine Zeit, das zu entscheiden, weil Des- mond Yale in diesem Moment beschloss, die Flucht zu ergreifen.
Vayl wollte ihn verfolgen, doch er war in dieser Gestalt zu langsam. Sogar langsamer als ich. »Verdammt, er wird entkommen!«
Ich wandte ein: »Ich glaube, ich kann ihn aufspüren, so wie Pengfei. Aber wir brauchen einen fahrbaren Unter- satz!«
Vayl zählte die Möglichkeiten auf: »Wohnmobil. Mo- peds. Taxi. Ein Fahrzeug beschlagnahmen.«
»Cole!«, schrie ich.
»Ja!« Ich sah, wie er den Hügel herunter auf uns zulief, wobei er den Kratern auswich wie ein Slalomprofi ohne Skier.
»Ruf Jericho an! Wir brauchen ein Fahrzeug am Wohn- mobil, sofort!« Ich drehte mich zu Vayl um. »Ist das für dich okay?«
»Solange es schnell geht.«
»Alles klar.« Wir rannten zum Wohnmobil. Vayl warte- te draußen auf unsere Mitfahrgelegenheit, während ich hineinging, um mich umzuziehen. Das Schwindelgefühl war durch Kopfschmerzen ersetzt worden, die gigantisch zu werden versprachen, also verlangte ich ein paar Aspi- rin, als ich ins Bad rannte. Innerhalb von fünf Minuten
war ich das Kleid los, war in Jeans, einen burgunderroten Pulli und meine schwarze Lederjacke geschlüpft, hatte Kummer nachgeladen und mir ein Ersatzmagazin in die Tasche gestopft und hatte mir Cassandras Blasenmacher angezogen und versprochen, ihr ein neues Paar zu kaufen.
»Jericho ist da!«, schrie Cole aus dem vorderen Teil des Wohnmobils. Ich rannte los, wobei meine Füße bereits wehtaten. Dabei kam ich an Bergman vorbei, der seine Pack- und Verstautätigkeiten unterbrochen hatte, um sich von Cole, der in der offenen Tür stand, eine Zusammen- fassung geben zu lassen.
»Ich weiß, dass du so schnell wie möglich wegwillst«, sagte ich zu Miles, als ich an ihm vorbeilief, »und ich kann es dir nicht übelnehmen. Eigentlich würde ich es dir sogar empfehlen. Aber Vayl ist immer noch in seiner Rüstung gefangen. Falls dir zufällig etwas einfällt, wie er sie vor dem Morgengrauen loswerden könnte, lass es uns wissen, okay?«
Bergman nickte. Ich nahm von Cassandra die Tabletten und ein Glas Wasser entgegen, wobei sie mir einen Blick zuwarf, der deutlich machte, dass sie gerne helfen würde. »Bleib hier drinnen«, befahl ich ihr. »Der Schröpfer hat dich aufs Korn genommen, um an mich heranzukom- men.« Wenn ich Glück hatte, hatte sie sich Bergman bei seinem Exodus angeschlossen, wenn ich zurückkam.
Ich raste auf einer heißen roten Kawasaki Ninja 250 durch die fast leeren Straßen von Corpus Christi. Jerichos priva- te Maschine. Vayl saß hinter mir und hatte einen Arm fest um meinen Bauch geschlungen. Ich spürte meinen Rü- cken nicht mehr, und meine Zähne begannen zu klappern. Ansonsten ging es mir gut. Schöne Motorräder haben die- se Wirkung auf mich.
»Wir kommen ihm näher«, erklärte ich Vayl über das Helmmikrofon. Als Cole entdeckt hatte, dass wir auf zwei statt auf vier Rädern unterwegs sein würden, hatte er unsere Helme aus dem Anhänger geholt. Sie passten zu dieser Maschine wesentlich besser als zu den Mopeds. Er folgte uns zusammen mit Jericho und drei anderen Polizisten, die er zusammengetrommelt hatte, in einem schnittigen schwarzen Pick-up. Ich hielt ihre Gegenwart weder für notwendig noch für klug. Aber mir blieb keine Zeit zum Streiten. Und ehrlich gesagt hätte ich, wenn ich ein solches Motorrad besessen hätte, auch ein wachsames Auge darauf gehabt.
Der Geruch des Schröpfers führte mich an Häusern vorbei, die typisch waren für den Südwesten, mit ihren satten Erdtönen, ergänzt durch Glas und Stahl. Selbst mit den hohen Palmen, die in langen Reihen davorstanden, verwirrte mich die Mischung. Dann sah ich die Anderen .
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