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Man lebt nur zweimal

Man lebt nur zweimal

Titel: Man lebt nur zweimal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heiner Lauterbach
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Wilton über Talent und Glück nach. »Ein Ball kann an der Netzkante abprallen und entweder auf das gegnerische Spielfeld rollen oder ins eigene Feld zurückfallen«, sagt er. Von dieser Szene ausgehend zitiert er Dostojewski mit der Aussage: »Wenn ich die Wahl hätte zwischen Talent und Glück, ich würde das Glück wählen!«
    Recht hat er. Ich würde noch hinzufügen: Wenn das Glück tatsächlich eingetreten ist, sollte man gut vorbereitet sein.
    TOURETTE-SYNDROM-THEATER
    Ich werde immer wieder gefragt, ob ich lieber Theater spiele oder die Arbeit vor der Kamera bevorzuge. Ich finde es ideal, beides zu machen, generell mag ich die Abwechslung.
    Die Vorteile des Theaters liegen auf der Hand. Das Feedback ist natürlich viel direkter, und man arbeitet chronologisch, nicht wie beim Film, wo man oft am ersten Tag das Ende drehen muss.
    Der in meinen Augen größte Nachteil des Theaters, und auch der Grund, warum ich viel weniger auf der Bühne stehe, als ich es eigentlich gerne täte, heißt: modernes Regietheater.
    Nun ist darüber in den Feuilletons schon viel geschrieben worden. Die Mehrzahl der Kritiker freut es, wenn ihnen Blut, Kotze und Sperma von der Bühne ins Publikum entgegenweht. Erst dann haben sie das Gefühl, an einem kulturell wertvollen und innovativen Akt teilzunehmen. Ein paar gestandene Damen und Herren verteidigen hingegen Begriffe wie Werktreue oder erwarten von einer Vorführung gar, dabei gut unterhalten zu werden – ihnen wirft man dann gerne Altersstarrsinn und Konservativismus vor. Aber für mich ist so eine moderne, hingebrüllte Theateraufführung ein bisschen so, als würden sich zehn Menschen mit Tourette-Syndrom auf der Bühne treffen.
    Es war irgendwann im Herbst 2008, als ich mich mit dem Kollegen Thomas Thieme verabredete, weil ich ihm eine Regiearbeit antragen wollte. Thieme freute sich über meinen Anruf und schlug vor, dass ich doch seine Vorstellung besuchen sollte. Er würde gerade wieder den Othello spielen.
    Nun muss man wissen, dass diese Inszenierung nach der Textfassung des türkischen Autors Feridun Zaimoglu nach den langen, verdienstvollen, aber gegen Ende eher beschaulichen Jahren der Dieter Dorn-Intendanz an den Münchner Kammerspielen zunächst für einiges Aufsehen gesorgt hatte. Während die eine Seite das Stück für eine der grässlichsten Shakespeare-Vergewaltigungen hielt, die je auf deutschen Bühnen stattgefunden hatte, feierte sie die andere Seite bereits als Anfang einer neuen Ära. Ich ahnte schon, welcher der beiden Parteien ich meine Stimme geben würde. Neue Ären sind immer mit Vorsicht zu genießen. Ich war da eher die Fraktion Altersstarrsinn.
    »Was, du hast es noch gar nicht gesehen? Na, dann komm doch vorbei und guck dir das Stück an!«, sagte Thieme. »Danach setzen wir uns in die Kantine und quatschen.«
    Ich wollte mich schon irgendwie herausreden. Ischias, ich kann nicht so lange sitzen, Staub- oder Parfümallergie, ein abendlicher Häkelkurstermin meiner Frau, der mich zwang, auf die Kinder aufzupassen – doch stattdessen sagte ich einfach ehrlich: »Du, ich kann mit den modernen Stücken nicht so viel anfangen.«
    »Doch, komm, das ist ein sehr wildes Stück, das wird dir gefallen«, versicherte er mir. (Ich weiß gar nicht, wie er darauf kommt, dass mir wilde Sachen gefallen.)
    Mein Freund Vladimir und ich bekamen sehr schöne Plätze in der dritten Reihe zugewiesen. Ich wusste nach fünf Minuten, dass ich es hassen würde. Eigentlich schon nach einer.
    Daher beschloss ich, das kunstbemühte Treiben auf der Bühne zu ignorieren und schaute mich im Publikum um. Ich weiß nicht, wie es möglich ist, aber ich sehe schon am Rücken eines Menschen, wenn die Front nichts versteht. Kulturerduldungsstarre sage ich da nur. Es war aber auch unmöglich, von dem Text etwas zu verstehen – er war nicht nur durch die Bearbeitung des türkischen Autors, sondern auch durch Schreien und Stottern der Akteure unkenntlich gemacht worden.
    Vielleicht gibt es eine heimliche Faszination für das Unverständliche. Ich beobachte das häufiger. Menschen interessieren sich auch für Free Jazz oder abstrakte Dichtkunst, obwohl meine Fantasie nicht ausreicht, mir den Grund dafür auszumalen. Die Begeisterung steigt oft proportional zur Ungenießbarkeit der Kunstwerke. Es ist fast so, als bestünde die größte Sorge dieser Menschen darin, ihnen könnte einer einen Strick draus drehen, dass sie sich für etwas Naheliegendes erwärmten. »Was, du magst Liebe,

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