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Man lebt nur zweimal

Man lebt nur zweimal

Titel: Man lebt nur zweimal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heiner Lauterbach
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In kleinen Theatern sitzt das Publikum maximal 15 Meter entfernt, sodass man diese nahe Kamerasituation fast simulieren kann.
    Da man in einem großen Schauspielhaus auch für die letzte Reihe spielt, weil die ihren Platz genauso bezahlt haben, muss man entsprechend übertreiben, im Grunde also völlig unorganisch und unrealistisch agieren. Klar, wenn ich einem Gegenüber auf mehr als 15 Meter Entfernung signalisieren möchte, dass ich sauer auf ihn bin, muss ich mich ganz schön ins Zeug legen. Wenn er mir direkt gegenüber steht, reicht es vielleicht, dass ich meine Augen zu Schlitzen verenge, wenn überhaupt.
    Man unterscheidet im Theater zwischen en suite und Repertoire. En suite heißt, dass man jeden Tag das gleiche Stück spielt – was weniger nervig ist, als man vielleicht annehmen würde –, während man als Repertoire-Spieler bis zu zehn Stücke gleichzeitig auf der Pfanne haben muss. Ich habe beispielsweise 150 Mal hintereinander die Schmutzigen Hände von Jean-Paul Sartre gespielt. In der Regel sechs Mal die Woche. Manchmal auch sieben Mal, wenn sonntags Doppelvorstellungen waren. Die Herausforderung besteht dann darin, sich jeden Abend um spätestens fünf vor acht erneut in den Arsch zu treten und alles zu geben für die 500, 600 Leute, die da unten sitzen. In den kleinen Theatern sogar noch weniger.
    Ich mache das, weil es zu meinem Beruf gehört, dass ich Dinge immer wieder abrufen muss. Situationen ein ums andere Mal reproduzieren kann, als hätte ich sie das erste Mal erlebt. Erst wenn man in der Lage ist, immer und immer wieder auf Kommando die verschiedensten Emotionen hervorzuholen, versteht man sein Handwerk und nähert sich einer gewissen Virtuosität.
    Nicht zuletzt mache ich es, um jedem einzelnen Zuschauer meinen Respekt zu zollen. Dafür, dass er sich die Mühe gemacht hat, zu erscheinen.
    Ich bin ja schon oft auf Theatertournee gewesen. Manchmal schaue ich in meiner Garderobe kurz vor der Vorstellung aus dem Fenster. Um mich ein wenig zu sammeln und noch einmal frische Luft zu schnappen, bevor es stundenlang auf die heiße und stickige Bühne geht. Dann sehe ich oft, wie die Menschen ins Theater strömen. Teilweise unter grausigen Bedingungen. Bei Glatteis und Schneeregen. Ich sehe, was für Strapazen sie auf sich nehmen, um uns auf der Bühne zuzusehen. Von den Eintrittspreisen mal abgesehen. Allerspätestens dann fällt es mir leicht, an diesem Abend mein Bestes zu geben.
    Was für ein riesiges Glück ich mit meinem Beruf habe, merke ich umso mehr, je älter ich werde. Denn zwangsläufig schwinden meine Möglichkeiten und Handlungsspielräume im echten Leben. Ich könnte nur schwer noch einmal völlig von vorne anfangen, einen neuen Beruf erlernen, eine andere Karriere anstreben. Allein schon, weil ich meine Familie nicht im Stich lassen würde. Ich könnte nicht auswandern, mein Geld wegschenken oder Bettelmönch werden.
    Mein Beruf bietet mir jedoch die Möglichkeit, viele Rollen auszuprobieren und Erfahrungen zu sammeln, die ich im echten Leben niemals machen könnte. Ich war schon Professor, Raumfahrer, Richter, Verleger, Zuhälter, Mörder, Frauenarzt, Werber und Bundeskanzler. Ich war vom jugendlichen Liebhaber bis hin zum schwulen Urgroßvater wirklich alles, was man sich vorstellen mag. Ich kann meine Lebens- und Erfahrungszeit durch meinen Beruf verhundertfachen. Wer kann das schon von sich behaupten?
    Wir sind ja alle mehr oder weniger kleine Psychopathen. Im Leben erfordert es immer wieder Mühe, sich zumindest halbwegs zusammenzureißen. Als Schauspieler kann ich all das herauslassen, was da unterschwellig in mir brodelt, ich kann herumschreien, lachen, weinen, flehen, ich kann ausflippen und verschiedene Extremsituationen ausleben, immer unter dem Deckmäntelchen des Berufs. Andere bezahlen einen Therapeuten dafür. Sie hüpfen auf Bällen oder verprügeln Schaumstoffmännchen. Ich habe das nicht nur den ganzen Tag lang umsonst, ich bekomme sogar noch Geld dafür.
    Viele Schauspieler berichten davon, wie sehr sie eine Rolle mitgenommen hat. Dass sie im Anschluss Wochen brauchten, um sich davon zu erholen, wenn sie einen Nazi oder einen Psychopathen gespielt haben. Ich empfinde es oft fast andersherum: Es kann unglaublich befreiend sein, wenn man mal sechs Wochen lang einen Geisteskranken gespielt hat, jeden Abend auf der Bühne stand und sabberte. Es ist zwar anstrengend, ganz klar, erfordert ein hohes Maß an Disziplin und kostet Kraft. Aber es kann einen auch unheimlich

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