Man lebt nur zweimal
Forderungen praktisch wieder bei null anfing. Eigentlich hätte er uns gestehen müssen, dass er gar nichts mehr verstand. Selbst Lawrence Olivier, der vielleicht beste Schauspieler der Welt, hätte einem Regisseur nach diesem Vortrag den Vogel gezeigt und ihn vermutlich gebeten, das einmal vorzuspielen. Aber unser Knabe versicherte mir, alles verinnerlicht zu haben und wollte es gleich umsetzen.
In der Tat kam er etwas zügiger rein und machte Anstalten, das Frühstück zu servieren. Allerdings in einer Art, die mich an alte Stummfilmzeiten erinnerte. Er schaffte es, auf Kommando jegliche Natürlichkeit aus seinem Gesicht zu verbannen.
»Stopp«, sagte ich wieder, bevor er anfangen konnte, auch nur ein einziges Wort seines Textes zu zelebrieren.
»Du bist Zivildienstleistender«, wiederholte ich mich, »also ein verhältnismäßig normaler Junge. Du arbeitest im Krankenhaus in einem normalen Beruf. Du willst den Tisch decken, alles reine Routine. Du machst allenfalls von deinen Händen Gebrauch. Niemals von deinem Gesicht.« Damit zitierte ich den 1970 verstorbenen Fritz Kortner, einen großen Regisseur und Schauspieler der Nachkriegszeit. Der hatte mal zu einem übereifrigen Statisten gesagt, der als Schutzmann einen Schauspieler abführen sollte: »Sie sind Polizist. Sie machen gegebenenfalls von ihrer Waffe Gebrauch. Niemals von ihrem Gesicht.«
Ich mochte diesen Satz und freute mich, ihn auch selbst mal loszuwerden.
Unser junger Schauspieler schien den tieferen Sinn dieses Satzes aber gar nicht zu begreifen. Überhaupt verstand er recht wenig und verhalf uns dadurch zur nächsten Rauchpause.
So zog sich der Tag hin. Mit weniger und mehr begabten Kollegen, die mehr oder weniger zu spät kamen.
Ein Junge war ziemlich talentiert. Er passte zwar von Optik und Alter nicht ganz so gut, hatte aber eine komische Begabung und war einigermaßen pünktlich und textsicher. Weil er den mit Abstand besten Eindruck von allen hinterließ, wollte ich ihn nicht einfach so gehen lassen. Wenn er die Rolle schon nicht bekam, so konnte er vielleicht wenigstens was anderes mitnehmen. Ich nahm ihn zur Seite:
»Hör mal, mein Junge«, sagte ich, »wenn du willst, werde ich dir einen ziemlich grandiosen Trick verraten. Er wird dir möglicherweise helfen, deinen Job als Schauspieler in Zukunft besser zu machen. Möchtest du ihn hören?«
Er nickte.
»Wenn du nochmals ein Vorsprechen hast, solltest du pünktlich sein. Nein, ich korrigiere, du solltest 15 Minuten früher da sein. Um abzuschalten, runterzufahren und dich zu konzentrieren.«
»Klar, dann kann ich mir den Text auch noch mal ansehen«, gab er sich einsichtig.
»Nein. Hier kommen wir gleich zum zweiten und noch wichtigeren Teil meines Rates. Ich habe selbst auch sehr lange gebraucht, bis ich das verstanden habe.«
Er guckte mich jetzt aufmerksam an.
»Lern deinen Text«, sagte ich. »Und zwar nicht erst auf der Bahnfahrt hierher, auch wenn alle deine Kumpels es so machen. Wenn du den Text nicht kannst, mit geschlossenen Augen und auf einem Bein hüpfend während im Hintergrund ein Formel-1-Rennen auf voller Lautstärke im Fernseher läuft, wenn du ihn nicht aufsagen kannst, während du mit deinen Geschwistern spielst, zu Hause, beim Einkaufen, oder wenn man dich mitten in der Nacht aufweckt. – Wenn du ihn dann nicht fehlerfrei aufsagen kannst, vorwärts wie rückwärts, dann wirst du auch nie ein richtig guter Schauspieler. Denn erst wenn du ihn dermaßen in- und auswendig beherrschst, kannst du anfangen zu spielen und bist nicht damit beschäftigt, ihn aus den abgelegensten Regionen deines Gehirns hervorgraben zu müssen. Dass du ihn nicht gut genug gelernt hast, war nicht das einzige Problem. Du hast auch immer etwas anderes gesagt, als das, was im Manuskript stand. Sinngemäß war es schon der richtige Text, aber wirklich korrekt war er nie. Dadurch verschiebt sich der Rhythmus und die Sache wird unrund.« Ich sah ihn an. Er schien das begriffen zu haben.
Na, dann hatte sich der Tag doch schon fast wieder gelohnt.
Wir haben übrigens später einen guten Schauspieler für die Rolle gefunden. Ein hinreißender Junge. Er heißt Phillip Danne. Phillip sieht gut aus, ist komisch, riecht gut, ist schlank, konnte seinen Text, war pünktlich und höflich. Ein Alien.
Wir sind mit dem Stück zuerst auf Tournee gegangen, haben es in rund achtzig Häusern quer durch Deutschland gespielt, bevor wir es am Renaissance Theater in Berlin und in der Komödie im Bayerischen
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