Manche Maedchen muessen sterben
mein Dad und Nicole bereits eine Affäre hatten, bevor meine Mutter starb. Ich fragte mich nicht, ob Josie tatsächlich meine Halbschwester war. Ich dachte nicht an meine Mutter, die bewusstlos in einer Pfütze aus Wasser und Blut und Glas starb. Ich machte einfach weiter, atmete ein und aus, setzte einen Fuß vor den anderen. Wenn man nicht weiß, wie das ist, kann man sich nicht vorstellen, wie frei ich mich fühlte, wenn ich lief.
Doch nachdem ich Alex getötet hatte, konnte ich so viel laufen, wie ich wollte, ohne je das Bild seines sterbenden Körpers aus meinem Bewusstsein tilgen zu können. Ich habe es mit allen Mitteln versucht; ich lief schneller und weiter, als ich es je zuvor getan hatte, und tat das Einzige, das ich kannte, um wieder klar im Kopf zu werden. Doch es gab kein Entrinnen. Schon bevor Alex mich im Tode fand, war er überall. Jener letzte Atemzug. Diese Augen, die zu mir aufblickten. Das konnte ich nicht vergessen, ganz gleich, wie viele Meilen ich zurücklegte.
Ich lief, bis meine Füße blutig und voller Blasen waren. Bis selbst Mr. Riley mir sagte, es sei zu viel; dass ich mich selbst zugrunde richte und ich kürzertreten müsse. Doch da wusste ich ohnehin bereits, dass es nicht funktionierte.
Warum habe ich so lange gewartet, bevor ich beschloss, mein Geheimnis zu lüften? Wovor hatte ich Angst? Heute weiß ich, dass alles besser gewesen wäre, als Alex’ Leben auf dem Gewissen zu haben. Alles – selbst mein eigener Tod.
Einst waren wir eine glückliche Familie. Mehr als sieben Jahre lang führten mein Dad und Nicole gemeinsam mit Josie und mir ein so normales Leben, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war. Mir selbst gegenüber eingestehen zu müssen, dass mein Vater und Nicole vor dem Tod meiner Mutter mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Affäre hatten, macht mich wütend, aber deshalb liebe ich meinen Dad nicht weniger. Stattdessen tut mir meine Mutter umso mehr leid. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn Nicole nie nach Noank zurückgekehrt wäre oder es meine Eltern nach dem College niemals wieder hierherverschlagen hätte. Doch wer weiß das schon?
Allerdings hätte ich dann niemals Richie kennengelernt. Und wenn es in meinem Leben etwas gibt, das ich keine Sekunde lang bereue, dann ist das Richie.
Es ist ein wunderschöner Tag Ende November. In einigen Tagen ist Erntedank. Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, warum ich immer noch hier bin. Nachdem die Polizei Josie abgeführt hatte, rechnete ich damit, mich in nichts aufzulösen, dorthin zu gehen, wohin auch immer Alex entschwunden ist. Doch nichts geschah. Mittlerweile bin ich seit Wochen allein hier. Ich warte auf etwas, das ist gewiss, aber ich habe keine Ahnung, auf was.
So vieles hat sich verändert, und doch ist so viel beim Alten geblieben. Sobald sie den Schock überwunden hatten, dass Josie für meinen Tod verantwortlich ist, fielen meine Freunde ohne große Mühe in ihre alten Routinen zurück. Carolines Vater hat einen neuen Job gefunden, der scheinbar noch besser ist als der alte. Von all meinen Freunden ist sie diejenige, die mein Grab am häufigsten besucht; sogar noch öfter als Richie. Ich weiß, dass sie ungeheuer erleichtert darüber sein muss, dass jetzt alle die Wahrheit über das kennen, was Alex und mir zugestoßen ist, und dass sie ihren Verdacht nicht mehr länger allein für sich behalten muss. Wenn sie mir jetzt einen Besuch abstattet, sagt sie nie viel. Und wenn sie fertig ist, geht sie über den Friedhof und besucht Alex. Trotz all ihrer Fehler – ungeachtet des gestohlenen Geldes und der geklauten Tabletten, ungeachtet ihrer Fixierung auf Beliebtheit und Status – ist sie eine gute Freundin geblieben.
Mera und Topher sind genauso, wie sie immer waren: Topher raucht nach wie vor, um sich anschließend wie besessen die Zähne zu putzen und sie eifrig mit Zahnseide zu reinigen; er und Mera sind noch immer das strahlendste Paar der Schule. Ihre Zuneigung zueinander hat mich früher unsäglich genervt, aber jetzt macht mir das nichts mehr aus. Ich freue mich für sie. Sie verdienen es, glücklich zu sein.
Und dann ist da noch Richie. An diesem besonderen Morgen tritt er aus seiner Vordertür und lehnt sich gegen einen der Verandapfosten, um seine hinteren Oberschenkelmuskeln zu dehnen. Er ist in letzter Zeit zu einem richtigen Läufer geworden. Und ich verstehe, warum.
Er blickt die Straße in Richtung meines alten Hauses hinunter. Da Josie das Schuljahr
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