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Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Mosley
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direkt?«
    »Ich bin das, was mein Lehrer einen literarischen Kanal nennt.«
    »Soll ich das etwa verstehen?«
    »So kompliziert ist es auch nicht. Weißt du, meine Tante Lenore Goodwoman hat mich zusammen mit zwölf anderen Kindern in einem Schuppen neben einer Tabakplantage in South Carolina aufgezogen. Jedes Wort, das sie je gesprochen hat, hörte sich irgendwie an, als käme es direkt von oben. Sie glaubte an Gott und die Natur und das, was sie die unerschöpflichen Brunnen der Erde nannte. Sie hat uns früher immer Vorträge gehalten über den tieferen Sinn jeder Wolke und jedes Lüftchens, über Düfte und Tragödien. Ich erinnere mich einfach daran, was sie gesagt hat oder wie sie es gesagt hat, schreibe es auf und bringe es zu meinem Lyrik-Workshop mit. Die fressen den Scheiß, als wär’s Tapioka-Pudding.«
    »Es ist also eine Art Schwindel?«, fragte ich mit wiedererwachenden Kräften.
    »Das ganze Leben ist Schwindel, LT . Vom Präsidenten bis zum Knastbruder streuen sie dir alle Sand in die Augen.«
    Ich sah Charlene und den pummeligen Geschäftsmann zum Fahrstuhl in den ersten Stock gehen, wahrscheinlich auf dem Weg zur Hausmeistergarderobe, und dachte, dass das, was Lemon sagte, möglicherweise ganz vernünftig klang.
    »Ich hab meine Gedichte schon in drei literarischen Magazinen veröffentlicht«, sagte Lemon. »Und ich hab eine neunundzwanzigjährige Freundin, die mich zum Schreiben anhält und hier und da sogar Lesungen für mich organisiert.«
    »Ohne Scheiß?«
    »Ich glaub, ich hab meine Berufung gefunden, Mann.«
    »Gut für dich, Mr. Charles. Ich wünsch dir das Beste.«
    Ich war bereit zu gehen. Mein Fieber sank, und mit dem kühleren Kopf wurde auch mein Bewusstsein wieder klarer. Ich fühlte mich immer noch schuldig, aber vielleicht ein, zwei Zentimeter näher am Licht.
    »Warte mal, Leonid«, sagte Lemon.
    »Was?«
    »Ich hab von Luke Nye gehört, dass du einen Typen namens William Williams suchst.«
    Ich wurde so still wie ein Scout der Mohawk, der im Wald nach Mitternacht einen Ast knacken hört.
    »Stimmt das?«, fragte Lemon.
    »Ich hoffe für dich, dass du mir etwas zu sagen hast, Lemon. Für mich ist das kein Witz.«
    »Scheiße. Ich würde Leonid Trotter McGill doch nie blöd kommen. Du bist ein humorloser Dreckskerl, immer todernst – das weiß jeder. Luke hat diesen Williams nur zufällig erwähnt, und ich hab mit jemandem drüber geredet, und Morgan meinte, es gäbe einen berühmten Dichter aus dem letzten Jahrhundert namens William Carlos Williams. Deshalb dachte ich mir, wenn Willy diesen speziellen falschen Namen benutzt, steht er vielleicht auf Gedichte oder so, und ich könnte mich mal ein bisschen umgucken, ob jemand aus der Lyrikszene in Frage kommt, sozusagen.«
    »Und was willst du mir sagen, Mann? Hast du jemanden gefunden?«
    Das Fieber kehrte zurück. Lemon registrierte aufmerksam, dass ich mich in seine Richtung beugte.
    »Nein, nein, nein, LT . Ich hab es bloß von Luke gehört, als ich ihm die Bücher vorbeigebracht habe, die er bestellt hatte. Dann hab ich dich gesehen und mich dran erinnert, was er mir erzählt hat. Ich frag bloß, ob du willst, dass ich mich mal umhöre.«
    »Klar.« Ich sprach das Wort aus wie eine Drohung.
    »Wie alt ist er?«
    »Alt.«
    »Und wenn ich ihn finde, wird er dich kennen?«
    »Oh ja.« Und ob Tolstoy mich kannte.

5
    Tolstoy McGill. In meinem Leben war er Gott gewesen, für immer verschwunden und dann anscheinend wieder auferstanden. Er meldete mich und meinen Bruder Nikita nicht an einer öffentlichen Schule an, sondern entschied sich dafür, uns zu Hause zu unterrichten. Diese Aufgabe nahm er sehr ernst. Anstatt über Dick und Jane lernten wir etwas über die Pariser Kommune. Georg Hegel und Karl Marx ersetzten Lincoln und Washington. Goldmann und Bakunin waren die Helden, die wir uns zum Vorbild nehmen sollten.
    Mein Vater war ein Anarchist, der sich für einen Kommunisten hielt; ein Dummkopf, egal wie man es betrachtete. Er wäre der Erste auf der Todesliste gewesen, wenn die Revolution, für die er gekämpft hatte, je erfolgreich gewesen wäre. Er hatte unsere Familie verlassen, als ich zwölf Jahre alt war. Meine Mutter starb an gebrochenem Herzen, und Nikita und ich wurden durch das System der so genannten Kinder- und Jugendhilfe getrennt. Als ich sechzehn war, hörte ich, dass mein Vater tot war, doch das wusste ich schon …
    Und dann eines Tages im vergangenen Jahr stellte sich heraus, dass er lebte, die

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