Mann im Dunkel
bringen.
Wie viel Zeit ist inzwischen vergangen? Vier Tage nein, fünf –, das heißt, ihm bleiben nur noch achtundvierzig Stunden. Brick muss endlich die Wohnung verlassen und sich nach draußen wagen. Er hat alle seine Auftritte als der Große Zavello für diese Woche abgesagt – er müsse wegen Grippe das Bett hüten – und den Telefonstecker herausgezogen. Flora wird versucht haben, ihn zu erreichen, aber er findet einfach nicht den Mut, jetzt mit ihr zu reden, denn er weiß, schon der Klang ihrer Stimme würde ihn so sehr aus der Fassung bringen, dass er die Beherrschung verlieren und dummes Zeug faseln oder, schlimmer noch, in Tränen ausbrechen könnte, was ihre Unruhe nur noch steigern würde. Wie auch immer, am Morgen des siebenundzwanzigsten rasiert er sich endlich, geht unter die Dusche und zieht frische Sachen an. Die Sonne scheint durch die Fenster, das verlockende Licht des New Yorker Frühlings flüstert ihm zu, ein Spaziergang an der frischen Luft könne ihm nur guttun. Wo sein Kopf nun mal keine Lösung für sein Problem gefunden hat, findet er die Antwort vielleicht in den Füßen.
Aber kaum ist er auf den Bürgersteig hinausgetreten, hört er seinen Namen rufen. Es ist die Stimme einer Frau, und da in der Nähe kein einziger Fußgänger zu sehen ist, vermag Brick nicht zu sagen, woher die Stimme kommt. Er blickt sich um, hört wieder seinen Namen, und siehe da, am Steuer eines Autos auf der gegenüberliegenden Straßenseite erkennt er Virginia Blaine. Unverhofft fällt ihm ein Stein vom Herzen, doch als er vom Bordstein auf die Straße tritt und zu der Frau hinübergeht, die ihn seit einem Monat verfolgt, überkommen ihn böse Ahnungen. Und als er den weißen Mercedes erreicht hat, pocht ihm das Blut schon laut in den Ohren.
Guten Morgen, Owen, sagt sie. Hast du eine Minute Zeit?
Hätte nicht erwartet, dich wiederzusehen, antwortet Brick und betrachtet eingehend ihr schönes Gesicht, das noch schöner ist, als er es in Erinnerung hatte, und ihr dunkelbraunes Haar, das sie jetzt kürzer trägt, ihren zierlichen Mund mit dem roten Lippenstift, ihre blauen Augen mit den langen Wimpern und ihre schmalen Hände, die anmutig auf dem Steuer liegen.
Ich hoffe, ich störe nicht, sagt sie.
Überhaupt nicht. Ich wollte bloß einen Spaziergang machen.
Gut. Machen wir eine Spazierfahrt daraus, okay?
Wohin?
Das sage ich dir später. Wir beide haben eine Menge zu besprechen. Wenn wir erst an unserem Ziel angekommen sind, wirst du schon kapieren, warum ich dich dorthin gebracht habe.
Brick zögert, immer noch im Ungewissen, ob er Virginia trauen kann oder nicht, aber dann erkennt er, dass es ihm gleichgültig ist, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach ein toter Mann ist, egal, was er tut. Wenn das die letzten Stunden seines Lebens sind, denkt er, ist es immer noch besser, sie mit ihr zu verbringen, als einsam und allein zu bleiben.
Und so fahren sie in den strahlenden Maimorgen hinaus, lassen New York hinter sich, nehmen die I-95 am Südrand von Connecticut entlang, biegen kurz vor New London auf die 395 ab und brausen mit siebzig Meilen die Stunde nach Norden. Brick achtet kaum auf die vorbeiziehende Landschaft, sondern behält lieber Virginia im Blick, die einen mattblauen Pullover und eine weiße Leinenhose trägt und so selbstbewusst und souverän in ihrem braunen Ledersitz lehnt, dass er unwillkürlich an die jüngere Virginia denken muss, die ihn jedes Mal zum Stottern gebracht hatte, wann immer er mit ihr zu reden versuchte. Heute sieht das anders aus, sagt er sich. Er ist erwachsen geworden, und jetzt schüchtert sie ihn nicht mehr ein. Gewiss, er muss sich vorsehen, aber nicht vor Virginia als Frau – eher vor dem kleinen Rädchen in der großen Maschine, der Person, die mit Frisk unter einer Decke steckt.
Du siehst viel besser aus, Owen, fängt sie an. Die Wunden verheilt, keine Pflaster mehr. Und wie ich sehe, hast du deinen Zahn in Ordnung bringen lassen. Die Wunder der Zahntechnik, wie? Vom verbeulten Boxer zurück zum hübschen Kerl.
Für dieses Thema kann Brick kein Interesse aufbringen, und statt mit ihr über den Zustand seines Gesichts zu plaudern, kommt er direkt zur Sache. Hat Frisk dir die Spritze gegeben?, fragt er.
Wie ich hierhergekommen bin, spielt keine Rolle, sagt sie. Wichtig ist allein, warum.
Um mich kaltzumachen, nehme ich an.
Da irrst du dich. Ich bin hier, weil ich ein schlechtes Gewissen habe. Du steckst meinetwegen in der Klemme, und jetzt versuche ich dir
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