Mann im Dunkel
unter föderalistischer Kontrolle. Große Teile von Idaho, Wyoming und Nebraska sind zu Gefangenenlagern gemacht worden. Wollen Sie noch mehr hören?
Nein, nein, ich verstehe schon.
Sie müssen es machen, Brick.
Tut mir leid. Ich kann das einfach nicht.
Sie erinnern sich an die Konsequenzen?
Deswegen sind Sie ja wohl hier.
Nein. Wir setzen Ihnen eine Frist. Heute in einer Woche. Wenn Brill bis Mitternacht des achtundzwanzigsten nicht beseitigt ist, kommen Duke und ich wieder – und dann werden unsere Waffen geladen sein. Haben Sie gehört, Corporal? Heute in einer Woche, oder Sie und Ihre Frau müssen sterben.
Ich weiß nicht, Wie spät es ist. Die Zeiger des Weckers sind nicht beleuchtet, und ich habe nicht vor, noch einmal die Lampe anzumachen und mich ihren blendenden Strahlen auszusetzen. Immer wieder nehme ich mir vor, Miriam zu bitten, mir eines dieser Dinger zu besorgen, die im Dunkeln leuchten, aber kaum wache ich auf, ist es vergessen. Das Licht löscht den Gedanken, und ich erinnere mich erst wieder daran, wenn ich das nächste Mal schlaflos im Bett liege und die unsichtbare Decke meines unsichtbaren Zimmers anstarre. Vermutlich ist es jetzt zwischen halb zwei und zwei, aber sicher bin ich mir nicht. Langsam kriecht die Zeit, langsam …
Das mit der Webseite war Miriams Idee gewesen. Wenn ich gewusst hätte, was sie im Schilde führte, hätte ich ihr gesagt, sie solle ihre Zeit nicht mit so etwas vergeuden, aber sie hatte es vor mir geheimgehalten (gedeckt und unterstützt von ihrer Mutter, die nahezu alle jemals von mir veröffentlichten Sachen aufbewahrte), und als sie dann zu meinem siebzigsten Geburtstag nach New York kam, führte sie mich in mein Arbeitszimmer, schaltete meinen Laptop an und zeigte mir ihr Werk. Die Artikel wären den Aufwand kaum wert gewesen, aber die Vorstellung, wie viele ungezählte Stunden meine Tochter damit zugebracht haben musste, dieses alte Zeug abzutippen für die Nachwelt, wie sie es ausdrückte –, machte mich fassungslos. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wenn mich meine Gefühle zu übermannen drohen, versuche ich normalerweise mit einer geistreichen oder witzigen Bemerkung davon abzulenken, aber an jenem Abend nahm ich Miriam einfach in die Arme und sagte gar nichts. Sonia weinte natürlich. Sie weinte immer, wenn sie glücklich war, aber diesmal taten ihre Tränen mir ganz besonders weh, drei Tage zuvor hatte man bei ihr Krebs diagnostiziert, und die Prognose war alles andere als günstig. Niemand sprach es aus, aber wir wussten alle drei, dass sie meinen nächsten Geburtstag vielleicht nicht mehr mit uns würde feiern können. Wie sich herausstellte, war die Hoffnung auf ein ganzes gemeinsames Jahr noch allzu optimistisch gewesen.
Ich sollte das lassen. Ich habe mir fest vorgenommen, niemals in die Falle zu tappen und mich in Erinnerungen an Sonia zu verlieren. Ich kann es mir nicht leisten, jetzt einzuknicken und in Trauer, Selbstvorwürfen und Verzweiflung zu versinken. Denn entweder breche ich dann in Tränen aus und wecke mit meinem Geheul die Mädchen oben – oder ich bringe die nächsten Stunden damit zu, mir immer kunstvollere und verrücktere Methoden auszudenken, wie ich mich umbringen könnte. Genau das aber soll Brick vorbehalten bleiben, dem Protagonisten der heutigen Geschichte. Vielleicht erklärt das auch, warum er und Flora den Computer einschalten und sich Miriams Webseite ansehen. Es scheint nicht unwichtig zu sein, dass mein Held mich ein wenig kennenlernt, er soll wissen, mit wem er es zu tun bekommt. Nachdem er sich nun schon mit einigen von mir empfohlenen Büchern beschäftigt hat, fangen wir endlich an, so etwas wie eine Beziehung aufzubauen. Das Ganze dürfte sich zu einem ziemlich komplizierten Tanz entwickeln, Tatsache ist, dass Brills Auftritt in dieser Geschichte ursprünglich nicht von mir vorgesehen war. Der Kopf, dem der Krieg entsprang, hätte einem anderen gehören sollen, einer fiktiven Gestalt, so unwirklich wie Brick und Flora und Tobak und alle Übrigen, aber je länger ich darüber nachdachte, desto deutlicher wurde mir bewusst, dass ich mich dadurch bloß selbst hinters Licht führte. Die Geschichte handelt von einem Mann, der die Person töten soll, die ihn erschaffen hat – warum also so tun, als sei diese Person nicht ich selbst? Indem ich mich in die Geschichte einsetze, wird sie real. Oder aber ich werde unreal, zum bloßen Produkt meiner eigenen Phantasie. In jedem Fall ist das Ganze
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