Mann im Dunkel
Sonia machte sich Sorgen, Miriam sei noch zu jung, sich in die Ehe zu stürzen, sie sei drauf und dran, denselben Fehler zu begehen wie wir damals mit Anfang zwanzig. Sehr prophetisch, natürlich, aber deine Großmutter hatte schon immer einen Riecher für solche Dinge. Ich schrieb ihr zurück, wahrscheinlich habe sie recht, aber selbst wenn sie recht habe, könnten wir nichts dagegen unternehmen. Man darf sich nicht in die Gefühle anderer Leute einmischen, am allerwenigsten in die der eigenen Kinder, und die Wahrheit ist, dass Kinder nichts aus den Fehlern ihrer Eltern lernen. Wir dürfen ihnen nicht reinreden und müssen zulassen, dass sie in die Welt hinausgehen und ihre Fehler selber machen. Das war meine Antwort, und ich schloss den Brief mit einer ziemlich abgedroschenen Floskel: Uns bleibt nichts, als das Beste zu hoffen.
Am Tag der Hochzeit trat Sonia an mich heran und sagte: Ich hoffe das Beste. Wenn ich den Augenblick bestimmen sollte, in dem unsere Aussöhnung begann, würde ich diesen nennen, den Augenblick, als deine Großmutter das zu mir sagte. Da waren die Hochzeit unserer Tochter, eine emotionsgeladene Atmosphäre – Glück, Sorgen, Nostalgie, jede Menge großer Gefühle –, und wir beide, kaum in der Stimmung, gegen wen auch immer irgendeinen Groll zu hegen. Ich war damals ein Wrack, hatte mich noch längst nicht von dem Debakel mit Oona erholt, aber auch Sonia machte schwere Zeiten durch. Sie hatte sich Anfang des Jahres von der Bühne zurückgezogen, und wie ich später von deiner Mutter erfuhr (Sonia selbst vertraute mir nie irgendwelche Geheimnisse aus ihrem Privatleben an), hatte sie sich erst kürzlich von einem Mann getrennt. Uns beiden war also ziemlich elend zumute, und dass wir diesen Tag zusammen verbringen konnten, empfanden wir irgendwie als tröstlich. Zwei Veteranen, die im selben Krieg gekämpft hatten und die Tochter nun in ihren eigenen ziehen sahen. Wir tanzten, wir sprachen von alten Zeiten, und ein paarmal hielten wir uns sogar kurz an den Händen. Dann war die Party vorbei, und alle gingen nach Hause, aber ich weiß noch, als ich nach New York zurückkam, dachte ich, dieser Tag mit ihr sei das Beste gewesen, was ich seit langer Zeit erlebt hatte. Ich habe mich nie bewusst dazu entschlossen, aber etwa einen Monat später wachte ich morgens auf und stellte fest, dass ich sie Wiedersehen wollte. Nein, mehr als das. Ich wollte sie zurückerobern. Ich wusste, meine Chancen standen praktisch gleich null, ich wusste aber auch, dass ich es versuchen musste. Also rief ich sie an.
Einfach so? Du hast einfach den Hörer abgenommen und sie angerufen?
Nicht ohne Zittern und Zagen. Nicht ohne Kloß im Hals und ein mulmiges Gefühl im Bauch. Es war genau so wie vor siebenundzwanzig Jahren, als ich sie zum ersten Mal angerufen hatte. Ich war wieder zwanzig, ein bibbernder, liebeskranker Jüngling, der seinen ganzen Mut zusammennehmen muss, um den Hörer abzunehmen und seine Angebetete zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen wolle. Ich habe das Telefon bestimmt zehn Minuten lang angestarrt, und als ich die Nummer endlich gewählt hatte, war Sonia nicht zu Hause. Der Anrufbeantworter sprang an, und der Klang ihrer Stimme brachte mich so durcheinander, dass ich sofort wieder auflegte. Immer mit der Ruhe, sagte ich mir, du benimmst dich wie ein Idiot; also wählte ich noch einmal und hinterließ eine Nachricht. Nichts Umständliches. Nur, dass ich etwas mit ihr besprechen wolle, dass ich hoffe, es gehe ihr gut, und dass ich den ganzen Tag zu Hause sei.
Hat sie zurückgerufen – oder musstest du es ein zweites Mal versuchen?
Sie hat angerufen. Aber das bewies noch gar nichts. Sie ahnte ja nicht, worüber ich mit ihr reden wollte. Vielleicht dachte sie, es gehe um Miriam – oder irgendetwas Alltägliches. Auf jeden Fall klang ihre Stimme ruhig, ein wenig reserviert, aber nicht ungehalten. Ich sagte ihr, ich habe an sie denken müssen und wolle wissen, wie es ihr gehe. Ich lass mich nicht unterkriegen, antwortete sie, oder etwas in der Richtung. War schön, dich auf der Hochzeit zu sehen, sagte ich. Ja, meinte sie, das sei ein bemerkenswerter Tag gewesen, sie habe sich sehr wohl gefühlt. So ging es hin und her, ein höfliches Herantasten von beiden Seiten, zögernd und vorsichtig, um ja nicht zu viel preiszugeben. Aber schließlich platzte ich mit der Frage heraus: Ob sie Lust habe, diese Woche einmal abends mit mir essen zu gehen? Essen?, wiederholte sie ungläubig. Danach entstand eine lange
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