Mann im Dunkel
zufügte, die mich liebten. Sonia war der feste Boden unter meinen Füßen, meine einzige haltbare Verbindung zur Welt. Das Leben mit ihr hatte mich besser gemacht als ich war – gesünder, stärker, vernünftiger –, und da wir schon von Jugend an miteinander lebten, war dieser Makel die ganze Zeit über verschleiert geblieben, und ich hatte mir einbilden können, ich sei wie alle anderen. Aber das war ich nicht. Sobald ich von Sonia abzurücken begann, fiel der Verband von meiner Wunde, und dann hörte sie nicht mehr auf zu bluten. Ich rannte anderen Frauen nach, weil ich das Gefühl hatte, etwas verpasst zu haben und die verlorene Zeit aufholen zu müssen. Ich spreche von Sex und von nichts anderem – trotzdem: Ein Mann kann nicht in der Gegend herumlaufen, tun, was ich getan habe, und gleichzeitig erwarten, dass seine Ehe schon irgendwie halten werde. Ich habe mir weisgemacht, es sei möglich.
Quäl dich nicht allzu sehr, Grandpa. Schließlich hat sie dich zurückgenommen.
Ich weiß … aber all diese vergeudeten Jahre! Mir wird schlecht, wenn ich daran denke. Diese idiotischen Affären und Abenteuer. Was haben sie mir gebracht? Ein paar billige Vergnügen, nichts von irgendeiner Bedeutung – und doch waren sie zweifellos das Fundament dessen, was dann folgte.
Oona McNally.
Sonia war so voller Vertrauen, und ich war verschwiegen genug, dass unser Zusammenleben ohne größere Störung weiterging. Sie wusste nichts, und ich sagte nichts, und nicht eine einzige Sekunde lang habe ich daran gedacht, sie zu verlassen. Dann schrieb ich neunzehnhundertvierundsiebzig eine positive Besprechung über den Erstlingsroman einer jungen amerikanischen Autorin. Ahnung von der eben erwähnten O. M. Das Buch schien mir verblüffend, äußerst originell und mit enormer Souveränität geschrieben, ein starkes, vielversprechendes Debüt. Über die Verfasserin wusste ich so gut wie nichts nur, dass sie sechsundzwanzig Jahre alt war und in New York lebte. Ich hatte die Druckfahnen gelesen, und da diese in den Siebzigern noch keine Autorenfotos enthielten, wusste ich nicht einmal, wie sie aussah. Ungefähr vier Monate später ging ich zu einer Lesung im Gotham Book Mart (ohne Sonia, die mit Miriam zu Hause geblieben war), und als wir nach der Lesung alle der Treppe zustrebten, packte mich jemand am Arm. Oona McNally. Sie wollte mir für die freundliche Kritik danken, mit der ich ihren Roman bedacht hatte. Das war schon alles, aber ich war so beeindruckt von ihrem Aussehen – groß und schlank, feingeschnittene Züge, eine zweite Virginia Blaine –, dass ich sie auf einen Drink einlud. Wie oft hatte ich Sonia bis dahin betrogen? Drei oder vier Abenteuer für eine Nacht, eine Miniaffäre von etwa zwei Wochen. Kein allzu langes Sündenregister, verglichen mit dem anderer Männer, aber schon dieses wenige hatte mich gelehrt, jede Gelegenheit zu ergreifen, die sich mir darbot. Bei diesem Mädchen war es freilich anders. Man schlief nicht mit Oona McNally, um am nächsten Morgen Abschied zu nehmen – man verliebte sich in sie, man wollte sein Leben mit ihr verbringen. Ich will dich nicht mit kitschigen Nebensachen langweilen. Heimliche Treffen in Restaurants, endlose Gespräche in abgelegenen Bars, langsames wechselseitiges Verführen. Sie ist mir nicht sofort in die Arme gesprungen. Ich musste ihr nachlaufen, ihr Vertrauen gewinnen, sie davon überzeugen, dass ein Mann tatsächlich zwei Frauen gleichzeitig lieben kann. Du musst wissen, noch hatte ich nicht die Absicht, Sonia zu verlassen. Ich wollte sie beide. Meine Frau, mit der ich seit siebzehn Jahren verheiratet war, meine Gefährtin, mein größter Schatz, die Mutter meines einzigen Kindes und diese phantastische junge Geliebte, die mich mit ihrer glühenden Intelligenz in ihren Bann schlug, diesen ungekannten erotischen Zauber, eine Frau, mit der ich über meine Arbeit, über Bücher und Ideen reden konnte. Allmählich verwandelte ich mich in eine Romanfigur aus dem neunzehnten Jahrhundert: eine gediegene Ehe in der einen Kiste, eine lebhafte Geliebte in der anderen, und ich, der Oberzauberer, stand zwischen den beiden, gewandt und geschickt genug, nie beide Kisten gleichzeitig aufzumachen. Über einige Monate hinweg gelang mir das, und da war ich mehr als nur Zauberer, ich war Trapezkünstler, ein Hochseilartist, der Tag für Tag zwischen Angst und Ekstase pendelte und zunehmend die Überzeugung gewann, niemals abstürzen zu können.
Und dann?
Dezember
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