Mann im Dunkel
neunzehnhundertvierundsiebzig, zwei Tage nach Weihnachten …
Bist du abgestürzt.
Bin ich abgestürzt. Sonia gab an diesem Abend ein Schubert-Konzert in der zweiundneunzigsten Straße, und als sie nach Hause kam, erklärte sie mir, sie wisse Bescheid.
Wie war sie dahintergekommen?
Das wollte sie mir nicht sagen. Aber alles, was sie mir vorhielt, entsprach den Tatsachen, und es schien mir sinnlos, noch irgendetwas abzustreiten. An eines erinnere ich mich noch ganz genau: wie gefasst sie war, jedenfalls, bis sie zu reden aufhörte. Sie weinte nicht, schrie nicht, sie machte mir keine Szene, sie schlug mich nicht und warf keine Gegenstände durchs Zimmer. Du musst dich entscheiden, sagte sie. Ich bin bereit, dir zu verzeihen, aber du musst jetzt auf der Stelle zu dieser Frau gehen und die Sache beenden. Ich weiß nicht, wie es mit uns weitergeht, ich weiß nicht, ob es jemals wieder so werden kann wie früher. Im Augenblick fühle ich mich, als hättest du ein Messer in meine Brust gestoßen und mir das Herz herausgerissen. Du hast mich umgebracht, August. Du siehst eine Tote vor dir, und wenn ich weiterhin so tue, als sei ich noch am Leben, dann nur, weil Miriam ihre Mutter braucht. Ich habe dich immer geliebt, habe dich immer für einen großherzigen Mann gehalten, aber jetzt sehe ich, du bist ein verlogener Mistkerl. Wie konntest du das nur tun, August? … Hier brach ihre Stimme, und sie nahm die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Ich setzte mich neben sie aufs Sofa und legte ihr einen Arm um die Schulter, aber sie schob mich weg. Fass mich nicht an, sagte sie. Komm mir nicht nahe, bevor du mit dieser Frau geredet hast. Wenn du heute Nacht nicht zurückkommst, brauchst du überhaupt nicht mehr zu kommen – nie mehr.
Bist du zurückgekommen?
Leider nein.
Das wird eine ziemlich finstere Geschichte, richtig?
Wenn du willst, höre ich sofort damit auf. Wir können auch von etwas anderem reden.
Nein, mach weiter. Aber fass dich kürzer, ja? Von deiner Ehe mit Oona brauchst du mir nicht zu erzählen. Ich weiß, du hast sie geliebt, ich weiß, das waren stürmische Zeiten für dich, und ich weiß auch, sie ist dir mit diesem deutschen Maler durchgebrannt. Klaus Soundso.
Bremen.
Klaus Bremen. Ich weiß, wie schrecklich das für dich war, ich weiß, du hast danach eine ganz schlimme Phase durchgemacht.
Die Alkoholphase. Hauptsächlich Scotch, Single Malt Scotch.
Und du brauchst mir auch nicht von deinen Schwierigkeiten mit meiner Mutter zu erzählen. Das weiß ich alles schon von ihr selbst. Diese Dinge sind beigelegt, und es gibt keinen Grund, noch einmal davon anzufangen.
Wenn du es sagst.
Mich interessiert eigentlich nur, wie du und Grandma wieder zusammengekommen seid.
Es geht dir nur um sie, stimmt’s?
Natürlich. Denn sie ist schließlich nicht mehr bei uns.
Neun Jahre Trennung. Aber ich habe mich niemals gegen sie gewandt. Reue und Bedauern, Selbstverachtung, das zermürbende Gift der Ungewissheit, das alles nagte an mir, solange ich mit Oona zusammen war. Sonia blieb ein Teil von mir, auch nach der Scheidung, ich hörte ihre Stimme noch immer in meinem Kopf – die allezeit anwesende Abwesende, wie ich sie heute manchmal nenne. Natürlich sahen wir uns weiterhin, es gab ja noch Miriam, die Organisation der gemeinsamen Sorgepflichten, die Wochenendverabredungen, die Sommerferien, Veranstaltungen an Highschool und College, und als wir uns allmählich an die neuen Umstände gewöhnt hatten, spürte ich, dass ihr Zorn auf mich sich in eine Art Mitleid verwandelte. Der arme August, der größte aller Narren. Sie hatte Männer. Das versteht sich von selbst, n’est-ce pas? Sie war erst vierzig, als ich sie verließ, immer noch strahlend, immer noch das wunderbare Mädchen, das sie gewesen war, und aus einer ihrer Liebschaften hätte etwas Ernsteres werden können, nehme ich an, aber davon weiß deine Mutter wahrscheinlich mehr als ich. Als Oona mit ihrem deutschen Maler von dannen zog, war ich am Boden zerstört. Deine taktvolle Anspielung auf meine schlimme Phase beschreibt nicht einmal annähernd, wie schlimm das für mich war. Ich werde mich jetzt nicht darin suhlen, das verspreche ich dir, aber selbst damals, als ich völlig allein war, bin ich nie auf die Idee gekommen, mich an Sonia zu wenden. Das war neunzehnhunderteinundachtzig. Neunzehnhundertzweiundachtzig, zwei Monate vor der Hochzeit deiner Eltern, schrieb sie mir einen Brief. Es ging darin nicht um uns, sondern um deine Mutter;
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