Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
gelernt, damit zu leben.
    Das klingt nicht ganz überzeugend.
    Es gab verschiedene Phasen, verschiedene Zeiten, und jede hatte ihre Besonderheiten. Am Anfang war Sonia weitgehend unbekannt. Bevor wir nach Paris zogen, hatte sie in New York zwar gelegentlich vor Publikum gesungen, aber in Frankreich musste sie ganz neu beginnen, und als sie dort gerade ein wenig Fuß gefasst hatte, sind wir nach Amerika zurück, und wieder ging alles von vorn los. Am Ende hat ihr das nur zum Vorteil gereicht, denn auf diese Weise konnte sie sich sowohl hier als auch in Europa einen Namen machen. Aber es hat eine Weile gedauert. Der Wendepunkt kam siebenundsechzig oder achtundsechzig, als sie den Plattenvertrag mit Nonesuch abschloss, bis dahin war sie nicht allzu oft weg gewesen. Ich fühlte mich völlig zerrissen. Einerseits freute es mich jedes Mal, wenn sie für einen Auftritt in einer neuen Stadt gebucht wurde. Andererseits ließ ich sie – genau wie deine Mutter – nur ungern ziehen. Ich musste lernen, damit zu leben, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Das mag nicht ganz überzeugend klingen, aber so war es nun mal.
    Du warst ihr treu …
    Absolut.
    Und wann ist es zum ersten Ausrutscher gekommen?
    Entgleisung wäre in diesem Zusammenhang wohl das passendere Wort.
    Oder, besser noch: Fehltritt. Das hat eine angemessen spirituelle Note.
    Na schön, Fehltritt. Um neunzehnhundertsiebzig herum, glaube ich. Aber mit Spiritualität hatte es nichts zu tun. Nur mit Sex, schlicht und einfach mit Sex. Es wurde Sommer, Sonia brach zu einer Europatournee auf, die drei Monate dauern sollte – übrigens zusammen mit deiner Mutter –, und ich blieb zurück, gerade mal fünfunddreißig Jahre alt, von Hormonen geschüttelt, ohne Frau allein in New York. Tagsüber arbeitete ich fleißig, aber die Nächte waren farblos, öde, leer. Ich fing an, mit einer Clique von Sportreportern auszugehen, die meisten von ihnen waren starke Trinker – Poker bis drei Uhr morgens, eine Bar nach der anderen. Nicht dass diese Leute mir besonders sympathisch gewesen wären, aber immerhin war es eine Abwechslung, und wenn ich den ganzen Tag mit mir selbst zugebracht hatte, brauchte ich ein wenig Gesellschaft. Als ich dann wieder einmal nach einer durchzechten Nacht in Richtung Upper West Side nach Hause ging, sah ich in einem Hauseingang eine Prostituierte stehen. Ein sehr attraktives Mädchen, wie sich herausstellte, und ich war betrunken genug, auf ihr verlockendes Angebot einzugehen. – Schockiert dich das?
    Ein wenig.
    Ich werde nicht weiter ins Detail gehen. Es geht mir nur um die allgemeine Richtung.
    Schon gut. Ich bin ja selber schuld. Ich habe unser Gespräch zu einer Nacht der Wahrheit im Schloss der Verzweiflung gemacht, und wo wir nun einmal angefangen haben, können wir’s auch zu Ende bringen.
    Also weiter?
    Ja, erzähl weiter.
    Das verlockende Angebot, nun, ich bekam meine schönen Stunden, die überhaupt keine schönen Stunden waren, aber nachdem ich fünfzehn Jahre lang mit derselben Frau geschlafen hatte, fand ich es faszinierend, einen anderen Körper zu berühren, Haut zu spüren, die anders war als die Haut, die ich kannte. Das war die Entdeckung jener Nacht. Die neue Erfahrung, mit einer anderen Frau zusammen zu sein.
    Hattest du Schuldgefühle?
    Nein. Ich sah es als Experiment. Ich hatte meine Lektion gelernt, sozusagen.
    Dann stimmt meine Theorie. Wäre Grandma zu Hause in New York geblieben, hättest du diesem Mädchen niemals Geld gegeben, damit es mit dir schläft.
    In diesem speziellen Fall: ja. Aber zu unserer Trennung brauchte es mehr als Untreue, mehr als Sonias Reisen. Ich habe jahrelang darüber nachgedacht, und die einzige halbwegs vernünftige Erklärung, zu der ich gelangt bin, ist die, dass mit mir damals etwas nicht stimmte, dass ich irgendeinen Fehler hatte, einen Makel, durch den dann am Ende alles kaputt gegangen ist. Ich rede nicht von moralischer Schwäche. Ich rede von meinem Kopf, meiner geistigen Verfassung. Inzwischen hat sich das etwas gebessert, nehme ich an, das Problem ist mit zunehmendem Alter kleiner geworden, aber damals, mit fünfunddreißig, achtunddreißig, vierzig, lief ich mit dem Gefühl durch die Gegend, mein Leben gehöre mir allein, noch nie sei ich wirklich eins mit mir gewesen, hätte nie wirklich gelebt. Und weil ich gewissermaßen gar nicht existierte, konnte ich auch nicht begreifen, welche Wirkung ich auf andere hatte, welchen Schaden ich anrichtete, wie viel Schmerz ich den Menschen

Weitere Kostenlose Bücher