Mann im Dunkel
Gästen waren Titus und seine Eltern, David Small und Elizabeth Blackman, beide Maler und alte Freunde von uns. Der neunzehnjährige Titus und die achtzehnjährige Katya schienen sich bestens zu verstehen. Starb er, weil er sich in unsere Enkelin verliebte? Wollte man diesen Gedanken weiterverfolgen, könnte man ebenso gut seinen Eltern die Schuld an allem geben. Hätten David und Liz sich nicht kennengelernt, wäre Titus niemals geboren worden.
Er war ein kluger Junge, fand ich, ein offenherziges, ungestümes Kind mit wilden roten Haaren, langen Beinen und großen Füßen. Zum ersten Mal sah ich ihn, als er vier Jahre alt war, und da Sonia und ich ziemlich oft bei seinen Eltern zu Besuch waren, fühlte er sich in unserer Gegenwart wohl und betrachtete uns bald weniger als Freunde der Familie, eher schon als Ersatz-Tante und -Onkel. Ich mochte ihn, weil er Bücher las, weil er eins dieser seltenen Kinder war, die sich für Literatur interessierten, und als er etwa mit fünfzehn anfing, Kurzgeschichten zu schreiben, schickte er sie mir und bat mich um meine Meinung. Sie waren nicht besonders gut, aber ich fand es rührend, dass er sich an mich um Rat gewandt hatte, und schließlich kam er ungefähr einmal im Monat zu uns in die Wohnung, um über seine neuesten Sachen zu reden. Bücher, die ich ihm zu lesen empfahl, arbeitete er eifrig, wenn auch mit kaum zielgerichteter Begeisterung durch. Nach und nach wurden seine Texte besser, aber er brachte mir jeden Monat etwas anderes, das deutliche Spuren des Schriftstellers trug, den er zufällig gerade las. Kein seltener Zug bei Anfängern, eher ein Zeichen, dass sich etwas entwickelt. Ab und zu blitzte ein wenig Talent in seiner blumigen, überladenen Prosa auf, aber noch war es zu früh, noch ließ sich nicht sagen, ob daraus wirklich einmal etwas werden könnte. Als er im letzten Jahr auf der Highschool erklärte, er wolle in der Stadt bleiben und aufs College der Columbia gehen, schrieb ich ihm einen Empfehlungsbrief. Ich weiß nicht, ob dieser Brief den Ausschlag gegeben hat, jedenfalls nahm meine Alma Mater ihn auf, und er setzte seine monatlichen Besuche fort.
Er war im zweiten Studienjahr, als er bei jenem Abendessen unsere Katya kennenlernte. Die beiden gaben ein seltsames, ganz reizendes Pärchen ab, fand ich. Der schlaksige, grinsende, heftig gestikulierende Titus und die kleine, schlanke, dunkelhaarige Tochter meiner Tochter. Das Sarah Lawrence College lag in Bronxville, von dort gelangte man mit der Bahn schnell in die Stadt, und so verbrachte Katya zu Beginn ihres Studiums die meisten Wochenenden bei uns, da ein bequemes Bett in der Wohnung ihrer Großeltern und das New Yorker Nachtleben ihr offensichtlich mehr zusagten als das Leben im Studentenwohnheim. Heute behauptet sie, sie habe Titus nie geliebt, aber in den Jahren ihres Zusammenseins kamen sie Dutzende Male zu uns zum Essen – meist waren wir nur zu viert –, und niemals habe ich irgendetwas anderes als Liebe und Zuneigung zwischen ihnen gespürt. Vielleicht bin ich blind gewesen. Vielleicht habe ich zu vieles für selbstverständlich erachtet, aber abgesehen von gelegentlichen intellektuellen Meinungsverschiedenheiten und einer Trennung, die nicht mal einen Monat lang währte, schienen sie ein vollkommen glückliches Paar zu sein. Wenn Titus mich allein besuchte, spielte er niemals auf irgendwelche Schwierigkeiten mit Katya an, und er war ein redseliger Junge, ein Mensch, der nichts zurückhielt, was ihm durch den Kopf ging, und wenn Katya mit ihm Schluss gemacht hätte, wäre er bestimmt darauf zu sprechen gekommen. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht habe ich ihn doch nicht so gut gekannt, wie ich dachte.
Als er davon anfing, er wolle eine Zeitlang im Irak arbeiten, gerieten seine Eltern in helle Aufregung. David, sonst die Sanftmut und Toleranz in Person, schrie ihn an und beschimpfte ihn als pathologisch Geistesgestörten, als Idioten, der von nichts eine Ahnung habe, als selbstmörderischen Irren. Liz weinte, verkroch sich im Bett und begann Tranquilizer in hohen Dosen zu schlucken. Das geschah im Februar letzten Jahres. Sonia war im vorangegangenen November gestorben, und ich selbst befand mich zu der Zeit in furchtbarer Verfassung, schüttete mich jeden Abend mit Alkohol zu, unfähig zu jeglichem Kontakt mit anderen Menschen, außer mir vor Trauer, aber David war so verzweifelt, dass er mich trotzdem anrief und fragte, ob ich dem Jungen nicht ins
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