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Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Woelffe
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antwortet nicht. Welche
vernünftige Antwort gibt es darauf? Er betrachtet den König. Er ist nicht
versucht zu lachen. Der König sagt: »Während der zwölf Tage zwischen dem Weihnachtstag
und dem Dreikönigstag erlaubt Gott den Toten zu wandern. Das ist allgemein bekannt.«
    Er sagt vorsichtig: »Wie sah
er aus, Ihr Bruder?«
    »Er sah so aus, wie ich mich
an ihn erinnere ... aber er war blass, sehr dünn. Um ihn herum schien ein weißes
Feuer, ein Licht. Sie wissen doch, dass Arthur jetzt in seinem
fünfundvierzigsten Jahr wäre. Ist das Ihr Alter, Master Cromwell?«
    »Ungefähr«, sagt er.
    »Ich kann das Alter von
Menschen sehr gut schätzen. Ich frage mich, wem Arthur ähnlich sähe, wäre er
noch am Leben. Meinem Vater vermutlich. Nun, ich bin wie mein Großvater.«
    Er glaubt, der König wird
sagen: Wem ähneln Sie? Aber nein: Er hat ein für alle Mal festgelegt, dass er
keine Vorfahren hat.
    »Er starb in Ludlow. Im
Winter. Die Straßen waren nicht passierbar. Sie mussten seinen Sarg auf einen
Ochsenkarren laden. Ein Prinz von England auf einem Karren! Ich kann nicht
glauben, dass das gut war.«
    Jetzt kommt Brereton mit dem
rostfarbenen Samt, der mit Zobel gefüttert ist. Henry steht auf und legt eine
Hülle aus Samt ab, bekommt eine andere, die dicker und plüschiger ist. Das
Zobelfutter kriecht aus der Manschette auf seine Hände, als wäre er ein
Monster-König, dem ein eigenes Fell wächst. »Sie haben ihn in Worcester
begraben«, sagt er. »Aber es beunruhigt mich. Ich habe ihn nicht tot gesehen.«
    Dr Cranmer sagt aus den
Schatten: »Die Toten kommen nicht zurück, um sich über ihre Beerdigung zu
beschweren. Es sind die Lebenden, die von diesen Dingen gequält werden.«
    Der König hüllt sich fest in
seine Robe. »Ich habe sein Gesicht nicht gesehen, erst jetzt in meinem Traum.
Und seinen Körper, strahlend weiß.«
    »Aber es ist nicht sein
Körper«, sagt Cranmer. »Es ist ein Bild, das sich im Kopf Eurer Majestät formt.
Solche Bilder sind quasi corpora, wie Körper. Lesen Sie Augustinus.«
    Der König sieht nicht aus, als
wolle er nach einem Buch schicken. »In meinem Traum stand er da und sah mich
an. Er sah traurig aus, so traurig. Er schien zu sagen, dass ich seinen Platz
eingenommen habe. Er schien zu sagen: Du hast mein Königreich genommen und du
hast meine Frau benutzt. Er ist zurückgekehrt, um mich zu beschämen.«
    Cranmer sagt, leicht
ungeduldig: »Wenn der Bruder Eurer Majestät starb, bevor er regieren konnte, so
war das Gottes Wille. Was Ihre vermeintliche Ehe betrifft, so wissen und
glauben wir alle, dass sie eindeutig gegen die Schrift war. Wir wissen, dass
der Mann in Rom nicht die Macht hat, Gottes Gesetz außer Kraft zu setzen. Dass
es eine Sünde gab, «kennen wir an; aber bei Gott ist genug Gnade.«
     
    »Nicht für mich«, sagt Henry.
»Wenn ich vor Gottes Gericht stehe, wird mein Bruder gegen mich sprechen. Er
ist zurückgekommen, damit ich mich schäme, und ich muss es ertragen.« Der
Gedanke macht ihn wütend. »Ich, ich allein.«
    Cranmer will etwas sagen; er,
Cromwell, fängt seinen Blick auf und schüttelt fast unmerklich den Kopf. »Hat
Ihr Bruder Arthur mit Ihnen gesprochen, in Ihrem Traum?«
    »Nein.«
    »Hat er ein Zeichen gemacht?«
    »Nein.«
    »Warum dann glauben, dass er
Eurer Majestät etwas anderes als Gutes wünscht? Es scheint mir, Sie haben
etwas in sein Gesicht hineingelesen, das nicht wirklich da war; das ist ein
Fehler, den wir mit den Toten machen. Hören Sie auf mich.« Er legt seine Hand
auf die königliche Petson, auf seinen Ärmel aus rostbraunem Samt, auf seinen
Arm, und er greift so fest zu, dass es zu spüren ist. »Kennen Sie den Juristenspruch >Le
mort saisit le vifAugenblick seines Todes wird seine Macht weitergegeben, es gibt keine Lücke,
kein Interregnum. Wenn Ihr Bruder Sie besucht hat, dann nicht, um Sie zu
beschämen, sondern um Sie daran zu erinnern, dass Ihnen die Macht sowohl der
Lebenden als auch der Toten verliehen ist. Es ist ein Zeichen für Sie, Ihr
Königtum zu überdenken. Und auszuüben.«
    Henry sieht zu ihm auf. Er
denkt nach. Er streicht über seine Zobelmanschette, und sein Gesichtsausdruck
ist verwirrt. »Ist das möglich?«
    Wieder hebt Cranmer zum
Sprechen an. Wieder schneidet er ihm das Wort ab. »Sie wissen, was auf Arthurs
Grabmal geschrieben steht?«
    »Rex quondam rexque futurus. Der einstige König ist auch
der künftige König.«
    »Ihr Vater hat

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