Mantel, Hilary
»Er möchte Sie sofort sehen.« Er zeigt seine Ungeduld auf die
übliche Art und Weise: indem er seinen Handschuh in die Handfläche schlägt und
mit dem Fuß auf den Boden klopft.
»Geht zurück ins Bett«, sagt
er zu seinem Haushalt. »Der König würde mich nicht nach Greenwich befehlen, um
mich zu verhaften; so wird das nicht gemacht.« Obwohl er eigentlich nicht weiß,
wie es gemacht wird; er wendet sich an Brereton. »Wozu braucht er mich?«
Breretons Augen schweifen
umher, er will sehen, wie diese Leute leben.
»Darüber kann ich Sie wirklich
nicht unterrichten.«
Er blickt auf Richard und
sieht, wie gerne dieser dem Lord Lümmel eins auf den Mund geben würde. Genauso
war ich früher auch, denkt er. Aber jetzt bin ich so friedlich wie ein Morgen
im Mai. Sie gehen hinaus, Richard, Rafe, er selbst, sein Sohn, in die dunkle
und raue Kälte.
Eine Gruppe von Fackelträgern
wartet mit Lichtern. Eine Barke wartet bei den nächstgelegenen Landungsstufen.
Es ist so weit zum Palace of Placentia, die Themse ist so schwarz,
dass sie auch auf dem Fluss Styx rudern könnten. Die Jungen sitzen ihm
gegenüber, aneinandergedrängt, stumm, und sehen wie ein einziger
zusammengesetzter Verwandter aus, obwohl Rafe natürlich nicht mit ihm verwandt
ist. Ich werde langsam wie Dr Cranmer, denkt er: Die Tamworths aus Lincolnshire
gehören zu meinen Verwandten, die Cliftons aus Clifton, die Familie Molyneux,
von der Sie gehört haben werden, oder nicht? Er sieht zu den Sternen hinauf,
aber sie leuchten schwach und scheinen weit weg zu sein, was sie, denkt er,
vermutlich auch sind.
Nun, was soll er tun? Soll er
eine Konversation mit Brereton versuchen? Die Ländereien der Familie liegen in
Staffordshire, in Cheshire, an der Grenze zu Wales. Sir Randal ist dieses Jahr
gestorben, und sein Sohn hat ein fettes Erbe angetreten, mindestens eintausend
pro Jahr an Einkünften aus Übertragungen der Krone, dazu in etwa dreihundert
aus nahe gelegenen Klöstern ... Er rechnet die Summen im Kopf zusammen. Das
Erbe ist auch keineswegs zu früh gekommen; der Mann muss so alt sein wie er
selbst oder fast so alt. Sein Vater Walter hätte sich gut mit den Breretons
verstanden, einer streitbaren Mannschaft, großen Störern des Landfriedens. Er
erinnert sich an ein Verfahren gegen sie in der Sternkammer, vor ungefähr
fünfzehn Jahren ... Das ist vermutlich kein gutes Thema. Und Brereton scheint
auch gar kein Gespräch zu wollen.
Jede Reise endet einmal, kommt
an irgendeinem Pier ans Ziel, an irgendeinem nebelverhüllten Kai, wo Fackeln
warten. Sie sollen umgehend zum König kommen, in das Innere des Palastes, in
seine privaten Räume. Harry Norris wartet auf sie; wer sonst? »Wie geht es ihm
jetzt?«, sagt Brereton. Norris verdreht die Augen.
»Nun, Master Cromwell«, sagt
er, »wir treffen uns wirklich unter den merkwürdigsten Umständen. Sind das Ihre
Söhne?« Er lächelt, betrachtet ihre Gesichter. »Nein, offensichtlich nicht. Es
sei denn, sie haben verschiedene Mütter.«
Er nennt ihre Namen: Master
Rafe Sadler, Master Richard Cromwell, Master Gregory Cromwell. Er bemerkt ein
bestürztes Flackern auf dem Gesicht seines Sohnes und stellt klar: »Das ist
mein Neffe, das - mein Sohn.«
»Nur Sie selbst gehen hinein«,
sagt Norris. »Kommen Sie, erwartet.« Über die Schulter sagt er: »Der König
befürchtet, es könnte ihm kalt werden. Würden Sie das rotbraune Nachtgewand
heraussuchen, das mit dem Zobelfell?«
Brereton grunzt eine Antwort.
Blöde Arbeit, die Pelze aufzuschütteln, wenn man in Chester sein könnte. Man
könnte das Volk aufwecken und ringsum auf den Stadtmauern die Trommel
schlagen.
Es ist ein geräumiges Gemach
mit einem hohen geschnitzten Bett; sein Blick streift es flüchtig. Im
Kerzenlicht sind die Vorhänge tintenschwarz. Das Bett ist leer. Henry sitzt
auf einem Samthocker. Er scheint allein zu sein, aber im Raum liegt ein
trockener Duft, eine zimtene Wärme, die ihn glauben lässt, der Kardinal müsse
in den Schatten sein und die mit Gewürzen gefüllte ausgehöhlte Orange halten,
die er immer in der Hand trug, wenn er dicht gedrängt unter Menschen stand.
Sicher wollen die Toten den Geruch der Lebenden abwehren; aber was er am
anderen Ende des Raumes sieht, ist nicht die schattenhafte Masse des Kardinals,
sondern ein blasses schwebendes Oval, und das ist das Gesicht von Thomas
Cranmer.
Der König dreht den Kopf zu
ihm, als er eintritt. »Cromwell, mein toter Bruder ist mir in einem Traum
erschienen.«
Er
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