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Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Woelffe
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mit dem Titel — wie werden sie es nennen? - >Zwanzig Jahre der
Beleidigungen< Sie kochen eine Suppe, in die sie noch die geringste meiner
vermeintlichen Kränkungen schütten, von der jede einzelne jedoch eine Wahrheit
ist, die ich ihnen gesagt habe ...« Er nimmt einen tiefen rasselnden Atemzug
und sieht an die Decke, in die die Tudor-Rose eingeschnitzt ist.
    »Es wird keine solche Suppe in
Ihrer Küche geben, Mylord«, sagt er. Er steht auf. Er sieht den Kardinal an,
und alles, was er sehen kann, ist noch mehr Arbeit.
     
    »Liz Wykys«, sagt Mercy, »hätte nicht gewollt, dass du
ihre Mädchen aufs Land schickst. Besonders weil Anne weint, wenn du nicht da
bist.«
    »Anne?« Er ist verblüfft. »Anne weint?«
    »Was hast du denn geglaubt?«,
fragt Mercy ein wenig schroff. »Glaubst du, deine Kinder lieben dich nicht?«
    Er überlässt ihr die
Entscheidung. Die Mädchen bleiben zu Hause. Es ist die falsche Entscheidung.
Mercy hängt die Zeichen des Schweißfiebers vor die Tür. Sie sagt: Wie konnte
das passieren? Wir scheuern, wir schrubben die Böden, ich glaube nicht, dass
man in ganz London ein saubereres Haus findet. Wir sprechen unsere Gebete. Ich
habe noch nie ein Kind beten sehen wie Anne. Sie betet, als würde sie in die
Schlacht ziehen.
    Anne wird zuerst krank. Mercy
und Johane schreien sie an und schütteln sie, damit sie wach bleibt, denn es
heißt, wenn man schläft, stirbt man. Aber der Sog der Krankheit ist stärker als
sie, und Anne fällt erschöpft auf das Polster, ringt nach Atem, und fällt
weiter: in schwarze Stille, nur ihre Hand bewegt sich, die Finger öffnen und
schließen sich zur Faust. Er umschließt ihre Hand und versucht, sie zur Ruhe zu
bringen, aber sie ist wie die eines Soldaten, der auf einen Kampf brennt.
    Später wacht sie von alleine
auf, fragt nach ihrer Mutter. Sie fragt nach dem Schreibheft, in das sie ihren
Namen geschrieben hat. In der Morgendämmerung geht das Fieber zurück. Johane
bricht erleichtert in Tränen aus, und Mercy schickt sie weg, damit sie schläft.
Anne setzt sich mit Mühe auf, sie sieht ihn deutlich, sie lächelt, sie sagt
seinen Namen. Sie bringen eine Schüssel mit Wasser, auf dem Rosenblätter schwimmen,
und waschen ihr das Gesicht; sie streckt vorsichtig den Finger aus und drückt
die Blätter unter Wasser, sodass jedes zu einem kleinen Schiff wird, das Wasser
transportiert, zu einem Kelch, einem duftenden Gral.
    Aber als die Sonne aufgeht,
steigt ihr Fieber wieder. Er erlaubt nicht, dass sie wieder damit beginnen, sie
zu kneifen und zu stoßen, zu schütteln; er gibt sie in Gottes Hand und bittet
Gott, gut zu ihm zu sein. Et spricht mit ihr, aber sie scheint ihn nicht zu
hören. Er hat keine Angst, sich anzustecken. Wenn der Kardinal diese Seuche
viermal überleben kann, besteht für mich gewiss keine Gefahr, und wenn ich
sterbe, habe ich mein Testament gemacht. Er sitzt bei ihr, sieht, wie sich ihre
Brust hebt und senkt, sieht, wie sie kämpft und verliert. Er ist nicht da, als
sie stirbt - Grace ist bereits erkrankt, und er kümmert sich um sie, als sie zu
Bett gebracht wird. Deshalb ist er nicht im Raum, gerade dann, und als sie ihn
hineinführen, hat sich ihr strenges kleines Gesicht entspannt und der Ausdruck
ist weich geworden. Sie sieht passiv aus, friedlich; ihre Hand ist schon
schwer, viel zu schwer für ihn.
    Er tritt aus dem Zimmer; er
sagt: »Sie hat schon Griechisch gelernt.« Natürlich, sagt Mercy: Sie war ein
wunderbares Kind, deine wahre Tochter. Sie lehnt sich an seine Schulter und
weint. Sie sagt: »Sie war klug und brav, und auf ihre Art war sie schön.«
    Sein Gedanke war: Sie hat
Griechisch gelernt - vielleicht kann sie es jetzt.
    Grace stirbt in seinen Armen;
sie stirbt leicht, genauso natürlich wie sie geboren wurde. Er legt sie
vorsichtig auf das feuchte Laken zurück: ein Kind von unglaublicher
Vollkommenheit, ihre Finger liegen ausgebreitet da wie dünne weiße Blätter.
Ich habe sie nie gekannt, denkt er; ich habe nie gewusst, dass ich sie hatte.
Es war ihm immer unmöglich erschienen, dass eine seiner Handlungen ihr das
Leben geschenkt hat, eine gedankenlose Sache, die er und Liz gemacht haben, in
einer Nacht, die sich von anderen nicht unterschied. Sie wollten einen Jungen
Henry nennen, ein Mädchen Katherine, und Liz hatte gesagt, das wird auch deine
Kat ehren. Aber als er sie gesehen hatte, fest eingewickelt, schön, vollendet
und vollkommen, hatte er einen ganz anderen Namen genannt, und Liz hatte
zugestimmt.

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